Das Blatt hat definitiv Risse. Zu überlegen ist, ob es eigentlich noch einen Wert hat. Herr Nipp zweifelt, legt es beiseite. Er wird es auch die nächsten Tage erstmal nicht beachten. Als er es ein zweites Mal in die Finger bekommt, ärgert er sich. Das darf doch nicht wahr sein. Ein weiterer Riss hat sich inzwischen ergeben. Warum und wie, das ist ihm völlig schleierhaft. So legt er das Blatt zwischen andere Blätter, will es einfach nicht mehr sehen. Er kann sich noch genau daran erinnern, dass er als Kind eine Briefmarke tauschen wollte und sein Gegenüber feststellte, dass diese einen winzigen riss hatte. „Die ist wertlos.“ Er hatte sich bei einem Verwandten erkundigt und erfahren, dass dem wirklich so war. Briefmarken mit Riss haben für Sammler keinen Wert. Vielleicht, denkt er nun, haben ja alle Blätter, Zettel und Schriftstücke, die mit Bildern bedruckt sind, keinen Wert mehr. Er überlegt, wie es wohl für einen Sammler von historischen Grafiken ist, wenn er entdecken muss, dass sein gehegter und gepflegter Rembrandt links oben an der Ecke einen kleinen Riss hat. Wird der die Radierung wegwerfen? Wertlos? Oder die Lithografie von Picasso, damals gekauft für einige tausend Mark – oh man, das darf nicht wahr sein, wie konnte das nur geschehen? Altpapier. Herr Nipp kann sich in solche Szenarien hereinsteigern. Auch die Aktien, die er sich damals real hatte ausgeben lassen, der reinste Wahnsinn, alles wertlos, nur weil er nicht aufgepasst hatte. Das muss er unbedingt recherchieren. Er wird, sobald er Zeit aufbringen kann, im Netz in den diversen Foren um Rat fragen.
Nachmittags muss er feststellen, dass der Klapprechner, den er seit nunmehr sieben Jahren benutzt hat, nicht mehr funktioniert, immer mehr Teile des Betriebssystems, das beim Kauf schon veraltet war, tun es einfach nicht mehr. Schon vor einigen Monaten, hatte er alles entrümpelt, was er nicht täglich im Gebrauch hatte. Aber so geht es einfach nicht weiter. Wenn inzwischen neben der Fotobearbeitung auch das einfache Textprogramm den Geist aufgibt, wenn einzelne Tasten keine Signale mehr weiter geben, drei sogar abgebrochen sind und das Ladegerät, welches nun dauerhaft angeschlossen sein muss, weil auch der Akku sich binnen weniger Minuten entlädt, einen offensichtlichen Schaden hat, dann gibt es nur noch eines, er wird sich endlich ein neues Gerät anschaffen. Dieses Mal ohne die Beratung durch seine Mitbewohner, die normalerweise alles viel besser wissen, als er selbst. Diese sind nämlich gar nicht da. Das macht er ihnen auch gar nicht zum Vorwurf, schließlich müssen auch die ihr eigenes Leben führen und das ist wahrscheinlich vielfältiger als er es sich vorstellen kann. Er schätzt deren Kenntnisse zwar über alles, aber sie haben die Angewohnheit, im Netz zu kaufen und Herr Nipp ist nach wie vor der Meinung, dass der Kauf in der Stadt mehr Menschen Arbeit und ein Auskommen bringt. Er glaubt auch weiterhin, dass Geschäfte letztlich der Allgemeinheit gegenüber fairer sind als internette Großkaufhäuser, selbst, wenn man etwas mehr zahlen muss, denn sie zahlen wenigstens Steuern. Außerdem erzeugen sie weniger Verpackungsmüll. Er lässt sich im Geschäft beraten. Ein netter Mann, der ihm kompetent erscheint. Ein Mann, der ihm auch noch das Gefühl vermittelt, er mache seinen Job gerne. Ohne irgendwelches Fachgefasel, erklärt der. Ein großer Bildschirm muss sein, mit einer ordentlichen Grafikkarte, klar, ein ordentlicher Arbeitsspeicher auch, sicher. Außerdem hat er wirklich keine Lust mehr, so lange darauf zu warten, dass das Gerät endlich hochfährt. Tatsächlich findet er ein entsprechendes Gerät, das außerdem auch noch finanzierbar erscheint. „Sie müssen das Gerät nur hochfahren und den Anweisungen folgen, dann geht das schon alles fast von alleine.“ Ja, das wird wohl gehen.
An der Kasse holt der jetzt schon zufriedene Kunde Bargeld aus dem Portmonaie, legt Schein für Schein auf den Thresen. Die Kassiererin schaut ihm ins Gesicht, lächelt, nimmt das Geld entgegen, prüft es kurz, zählt noch einmal durch und reicht ihm die Quittung. Erst draußen fällt Herrn Nipp auf, dass auch der Schein mit dem Rissen dabei war. Er zuckt kurz einmal mit den Schultern, legt den Karton ins Auto und fährt beruhigt nach Hause. Offenbar ist es gar nicht so schlimm, dass Geld auch Risse hat, solange die Menschen daran glauben, dass es Geld ist. Vielleicht ist es mit den Kunstgrafiken ja ähnlich und er muss sie gar nicht entsorgen.
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