Er liebt es, diese Geschichten zu sehen, zu lesen und zu hören. Manchmal würde er sie selber gerne erleben. Es gab eine Zeit, da glaubte Herr Nipp, solche Dinge selber erlebt zu haben, ohne an die Dinge an sich zu glauben. Da waren die Erscheinungen am Arbeitsplatz zu Zeiten, die doch nicht ins sonstige Schema passen, nicht um Mitternacht, auch tagsüber. Als fantsiebegabter Mensch kann er sich schließlich alles einbilden, das hat noch lange nichts mit der äußeren Realität zu tun. Da hatte er zum Beispiel im Wohnzimmer auf dem Schrank einen Schatten gesehen, den seiner vor vielen Jahren verstorbenen Großtante. Ganz deutlich. Es hätte natürlich keinen Schatten geben dürfen, weder war die Tante dort, noch reichte das Licht dorthin. Letzteres hatte ihn doch sehr stutzig gemacht. Aber letztlich hatte er das natürlich unter dem Aspekt „Jaja, eingeschlafen und geträumt“ abgehakt. Schließlich saß er auf dem Sofa. Das Bild jedoch hat sich eingebrannt. Wir haben uns alle solche Schutzmechanismen errichtet, die helfen, das alltägliche Erleben zu kathegorisieren, in die Schubladen zu legen, in welche es gehört oder zumindest gehören sollte. Da waren diese Erscheinungen im alten Fabrikgebäude gewesen, immer wieder. Immer wieder zu Zeiten, die gar nicht zum Schlafen passen, auch diese abgehakt, dieses Mal unter „Jaja, da hast du aber taggeträumt“. Die Erlebtnisse im Umfeld des Todes von Bekannten, Verwandten und Freunden. Abgehakt wieder einmal. „Jaja, du bist überspannt.“Da waren die Seltsamkeiten, die er zuweilen auf seinen langen Spaziergängen erleben konnte, auch die abgetan, das waren immer Missverständnisse, denn aus den Augenwinkeln lässt sich nichts Genaues wahrnehmen. „Jaja, da hat wahrscheinlich ein Ast gewackelt und du machst daraus etwas.“ Es gabe auch Zeiten, in denen wurden plötzlich Gerüche geweckt, die es gar nicht geben konnte, der Geruch des widerlich süßlichen Gases etwa, da er vor den Operationen einatmen musste. Immer hatte er sich als Kind dagegen gewehrt. Und jedes Mal, wenn dieser Geruch an verschiedensten Orten erschien, bekam er einen Würgereiz. Aber mal ehrlich. Was passiert denn, wenn man gebannt etwas beobachtet? Was pasiert, wenn wir völlig konzentriert einer Melodie lauschen? Einen köstlichen Wein trinken? Alles aus dem Umfeld wird ausgeschaltet, der Mensch fokussiert sich. Nur ein kleiner Teil der Wahrnehmung bleibt übrig. Und seien wir doch mal ehrlich, natürlich wird in fast allen Situationen so sein, wir sind darauf eingestzellt und getrimmt, von der Gesellschaft, unserem Erlebenshorizont, von den Medien, die uns täglich umgeben natürlich auch. Man nehme einen Bildschirm und verkleinere die Bildfläche eines Filmes, nach kurzer Zeit schon ist alles drumherum weg. Doch Herr Nipp hatte schon mehrfach einen Test gemacht, der immer wieder zu erschütternden Erkenntnissen führte. Der Versuch ist sehr einfach. Man setze sich in den Wald, entspannt möglichst. Möglichst auch nach einem ausgiebigen Spaziergang, das entlastet das gesamte vegetative Nervensystem. Der Selbstversuch kann nur allein vorgenommen werden, denn jeder Anwesende ist eine Ablenkung. Man wähle einen Ast oder Baumstamm, vielleicht einen Ansitz der Jägerschaft, der geöffnet ist. Auch wenn das verboten ist, die meisten Jäger haben nichts dagegen, dass man dort in aller Ruhe verweilt. Letztlich ist das ja auch Anerkennung ihrer wichtigen Tätigkeit. Fokussieren Sie ihren Blick auf ein nichtssagendes Element vor sich. Die ersten Minuten müssen sie angestrengt dorthin sehen. Dann versuchen Sie ihr Wahrnehmungsfeld zu erweitern und konzentrieren sich auf die Ränder des Blickfeldes, die äußersten Ränder natürlich. Konzentrieren Sie sich auch auf das, was ihre Haut fühlt. Beachten sie den Geruch um sich herum, vielleicht sogar den Geschmack. Ist da nicht etwas im Gleichgewicht gestört? Aber Sie dürfen nicht von ihrem Objekt lassen, die Augen so wenig wie möglich bewegen. Sie werden Entdeckungen machen. Herr Nipp hat sich schon wieder von seinen Gedanken in ein anderes Reich als jenes seiner Geschichten entführen lassen. Er weiß gar nicht mehr, wo er geblieben ist, was war noch auf den letzten Seiten dieses Buches geschehen? Er sollte sich nicht von den Worten verleiten lassen, selber zu denken. Er sollte sich voll und ganz den Geschichten hingeben und hinterher denken. Ja, war eine gute Idee, war gut geschrieben und jetzt kann ich das Buch weglegen, das hat nichts mit meiner Welt zu tun.
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