Damals gab es dieses Musical, Hair, einen Film dazu auch. Auch wenn Herr Nipp an sich kein Fan dieser meist aufgeblasenen Popopern ist, diesen Film fand er damals gut. Irgendwie romantisch, kritisch und tief anrührend. Vor allem schien es ihm damals zumindest, aus tiefster Seele und Empfindung gespielt und gedreht. Diese Situation war immerhin irgendwie möglich. In den Sechzigern. Die achtziger Jahre schienen ihm sowieso von der Angst vor einem Umkippen geprägt. Die Medien, die es damals gab, zeigten, dass alles fragil war. Niemand konnte ja ahnen wie zerbrechlich der scheinbar starke Warschauer Pakt wirklich sein würde. Ein Krieg erschien ihm und seinen Freunden irgendwie immer möglich. Es ging damals nicht anders, er hatte verweigern müssen, seinen kleinen Dienst zur Vermeidung zu leisten. Aber das ist Jahrzehnte her und er weiß heute nicht, ob er immer noch so empfinden würde. Vielleicht würden sich ihm heute andere Fragen stellen, auch wenn der Pazifismus grundsätzlich geblieben ist. Aber die Haare der Hippies waren ja auch letztlich vor allem Ausdruck des Protests gegen den Vietnamkrieg, Ausdruck einer neuen Lebenseinstellung, der des kommenden Wassermanns. Make love not war. Haare waren bei ihm selber sicherlich nicht als grundlegender Protest gemeint, Herr Nipp war dafür auch 20 Jahre zu spät dran. Die 68er waren inzwischen ihren Marsch durch die Institutionen gegangen und keiner seiner Lehrer, wirklich keiner, hatte die revolutionäre Welteinstellung beibehalten. Jeder von ihnen gab die gleichen Noten, die gleichen Strafen für die gleichen Taten wie die anderen auch und der Unterricht war ebenfalls nicht besser. Zwei oder drei ließen sich duzen, das war es dann aber auch schon. Und langhaarig war von denen schon lange keiner mehr. Lange Haare fand er einfach cool und er hatte sich schon in seiner Kindheit gewünscht, so auszusehen wie die Zwillinge, die mit riesigen Lockenmähnen die Dreistigkeit hatten, in die Kirche zu kommen, provokant, auch weil die beiden riesig waren. Über zwei Meter groß. Sie standen den gesamten Gottesdienst über schlecht getarnt gelangweilt hinten an der Glastür, angestarrt von den anderen Besuchern des Gottesdienstes, jedesmal wenn diese vom Altar zurück kamen. Getuschel, ha, die da, das gibt es ja nicht, die sehen doch aus „wie Mädchen oder Hippies“. Herr Nipps Eltern konnten sich darüber echauffieren. Herrlich. Eine biedere Zeitblase in einer riskanten Welt. Mit sechzehn schockierte er zum ersten Mal seine Eltern, er ließ sich eine Glatze scheren. Als Event, als Party, als Zeichen dafür, dass er jetzt erwachsen war. Außerdem hatte er damit eine Wette gewonnen, nein, mehrere, insgesamt 125 Mark (damals dann investiert in Aktien). Kurz vor den Sommerferien. Krach und Ärger zu Hause. „So gehst du nicht zur Schule.“ Und ab ging es zum Onkel und mit dem in den Urlaub. „Wir wollen dich nicht mehr sehen!“ Ja, was für eine Strafe, mit dem geliebten Onkel in den Urlaub in die Berge, wandern und klettern. Dort präsentierte er sich dann in den Dolomiten, St. Cyprian, mit roter Kleidung und dicker Kette und fühlte sich wie ein selbsternannter Baghwan-Jünger, der eine Ideologie zu vertreten hat, für zwei oder drei Tage, der mit einem katholischen Priester in den Urlaub fährt, denen zeige ich es. Ha. Sein Onkel nahm es mit Humor, die anderen Hausgäste auch und irgendwann auch er selber. „Das ist ganz wichtig, dass man irgendwann zeigt, die Kindheit ist vorbei. Für dich heißt das aber auch, dass du jetzt Verantwortung für dein Handeln übernehmen musst.“ Pragmatismus statt Herumgenöle. Das war für den jungen Herrn Nipp Anlass, nun seine Haare wachsen zu lassen, bis sie ihm im Rücken hingen. Die Haare hier auch Ausdruck von Veränderung. Als Herr Nipp sich Haare wachsen ließ, war es die Stellungnahme allen anderen gegenüber von „ich bin anders“, von independent, von anderer Musik und vor allem neuen Freunden, denen er sich bis heute tief verbunden fühlt. Lange Haare, getönt eine Zeit lang mit schwatter Kirsche, und Trachtenjacke in Kombination mit einem glänzenden sechziger Jahre Schlafanzugpaisleyhemd und selbst bestickter Hose. Grauenhaft schön. Modebewusst sicherlich irgendwie auch, damals. Ausdruck des Protestes sicherlich nicht. Seine Eltern nahmen es dann auch hin. Was soll es, es ist ja doch nicht zu ändern, der kommt schon noch zur Vernunft. Irgendwann hat er die Haare wieder geschoren, schneiden lassen vom Frisör, zunächst nur kurz, irgendwann dann ganz. Glatze mit einem Hauch braungrau. Es war ihm lächerlich, weiterhin lange Haare zu tragen, die zum größten Teil nicht mehr vorhanden sind. Alle zwei Wochen müssen sie nun ab. Kein Barbier oder Hairstylist wird mehr gebraucht. Jetzt hat er seit mehr als zwanzig Jahren einen Bartschneider. Das dauert genau sieben Minuten. Auch das ist kein Protest, das ist Pragmatismus, wie vom Onkel gelernt. Einer seiner Söhne trägt jetzt lang, das findet Herr Nipp richtig schön und ein bisschen neidisch ist er auch. Etwas anderes macht ihm Sorgen. Seit Tagen findet er wieder Haare überall, schwarze Haare in dicken Knäueln und saugt sie weg. Der Leihhund hat sie so geschickt in der Wohnung verteilt, dass immer wieder Flocken von ihnen auftauchen. Wovon ist das wohl Ausdruck?
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