Rehbock

Es gibt da einen Ort im Wald, da sitzt Herr Nipp besonders gern. Dann kann er stundenlang dort verbringen. Alle Bewegungen versucht er herunterzufahren. Nur ganz gemächlich schwenkt er den Kopf auf der Suche. Die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen. Sein Augenweiß ist auch aus nächster Distanz nicht mehr auszumachen. Diese Erhebung in der Landschaft eignet sich besonders gut zum Sitzen, weil über die Jahre ein durchaus komfortables Moospolster gewachsen ist. Alas Kind schon konnte er das, stundenlang an einer Stelle sitzen und beobachten. Sein Vater hatte damals immer gesagt, er solle sie Zeit nicht so vertrödeln und vergeuden. Im Nachhinein war es wohl genau das Gegenteil. Sich der Zeit, der Langeweile und der Realität aussetzen und dabei eine grundlegende Fähigkeit zu erlernen, die ihm für das spätere Leben von großer Bedeutung werden sollte. Zu Beobachten und ohne Vorbehalte anzunehmen, was das Leben bietet. Das sehen lernen ist ihm grundlegend wichtig gewesen. Die kleinen Stöckchen, welche früher immer piekten, wenn er sich auf das Moos setzte, sind inzwischen entfernt. Herr Nipp fühlt sich immer wie auf einem Sofa, nur dass es irgendwie besser, spannender oder vielleicht sogar aufregender duftet. Ein herber Geruch aus Pflanzen, Pilznoten und, so seltsam das klingt, Wasser. An manchen Tagen passiert dort gar nichts, vielleicht umtrudeln ihn einige Insekten, er hat sich dort auch schon zweimal eine Zecke eingefangen. Aber das ist, denkt er, nun wirklich zu vernachlässigen. Wer in den Wald geht, weiß, welchen Gefahren sie oder er sich aussetzt. Und Zecken sind echte Plagegeister, so viel ist ja wohl klar. Aber manchmal hat er auch das unverschämte Glück, wirklich wunderschöne Tiere zu sichten. Dann geht es ihm gut. Heute hat sich ein Fuchs erst gezeigt und später kam ein starker Rehbock. Das Stück Wild fegte das Gehörn an einer jungen Douglasie und Ästen oder besser Zweigen einer Eberesche in aller Gemütsruhe, bemerkte den heimlich Beobachter nicht. Der wundervoll entwickelte Kleinhirsch war wirklich bewunderungswürdig schön. Erst als es dunkel wurde, konnte Herr Nipp aufstehen, er hätte ihn nicht erschrecken mögen, beide Beine waren ihm eingeschlafen. Er fand einfach keinen Halt und fiel vornüber, rappelte sich auf, wankte wie nach einer halben Flasche Korn und verfluchte den blöden Rehbock, der so lange in seiner Nähe gestanden hatte.

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