Guppy in Gin

Auf der Fensterbank im Wohnzimmer steht seit einiger Zeit ein Glas. Herr Nipp hat es mit Wasser gefüllt, einige Steine reingelegt und kürzlich in einer Gärtnerei Wasserpflanzen erworben, die nun ein schönes Ensemble ergeben. Doch hat sich bereits seit einigen Tagen ein Problem gezeigt, denn an der Wasseroberfläche hängen winzige Larven! Die bei jeder Bewegung, die durch Wind oder anstoßen an das Glas entsteht, sich zuckend nach unten absetzen und erst nach einiger Zeit langsam treibend wieder nach oben kommen. Er weiß seit Tt, daß es sich nur um Mückenlarven handeln kann und wer will diese Tiere schon in der Wohnung haben. Die sind an und für sich wohl schön und sicherlich auch ökologisch nützlich, aber die Stiche sind eben weniger angenehm. Und mal ehrlich, wer weiß schon, welche Krankheiten sie übertragen. Vielleicht sogar Malaria? Herr Nipp ist ganz privat sehr gut darin, sich schlimmste Schreckensszenarien auszumalen. Wenn das bekannt würde und eine Sondereinheit des Bundesgesundheitsamtes mit weißen Schutzanzügen aufläuft, die ganze Nachbarschaft evakuiert, nur um den neuen international bedeutsamen Seuchenherd zu erfassen und eleminieren. Dalekgleich (diese schöne Wortneuschöpfung können nur Dr. Who – Seher verstehen) . Was würde die gesamte Umgebung von ihm denken, die zerreißen sich ja schon ihre Mundwerk, weil der Garten in dieser respektablen Gegend so unordentlich wirkt. Nein, das kann er sich einfach nicht leisten. Wegen dieses Wasserbehälters droht ihm sozusagen nicht nur ein kaum zu beschreibendes gesundheitliches Risiko, sondern eventuell sogar definitive soziale Isolation. Schrecklich. Er muss dringend etwas unternehmen. Im Internet hat er sich bereits in diversen Foren informiert und ist schlussendlich auf einer Seite gelandet, auf welcher wichtige Fragen Guppys betreffend beantwortet werden. Eins ist ihm nämlich sehr schnell klar geworden, gegen die drohende Pandemie, ausgehend aus seinem Wohnzimmer, kann nur besagter Millionenfisch helfen, der in verschiedenen Ländern bereits heute gegen die Malariamücken eingesetzt wird. Und da alle Fragen, die er hat, irgendwo schon einmal gefragt worden sind, egal wie blöd diese auch erscheinen, hat er auch zu seinem neuen Thema einen Beitrag gefunden. Da fragt eine Frau mit dem schönen Decknamen celine96, ob sie zwei gerettete Guppys (wo und warum, wovor gar sie gerettet wurden, erfährt Herr Nipp leider nicht) vorübergehend in einer Vase halten dürfe, weil sie erst in zwei Wochen ein gebrauchtes Aquarium von ihrem Onkel Klaus bekomme, der sich derzeit noch in Amerika zwecks eines Urlaubs aufhalte. Sofort bekommt sie die erwartbaren Antworten. Das gehe ja wohl gar nicht, sie mache sich nach Tierschutzgesetz sogar strafbar. Sie sei eben eine dumme Pute, das habe man von einer Frau auch nicht anders erwarten können (Anmerkung des Erzählers: hier wird in sehr abgemilderter Form abgebildet, was tatsächlich im Netz in solchen Foren besprochen wird. Trolle, die frauenfeindlich argumentieren, gegen jegliche Minderheit sind,vergiften leider an jeder Stelle das Netz, immer dort, wo offen diskutiert werden darf.). Die Debatte dort heizt sich jedenfalls ziemlich schnell und drastisch auf, es geht nicht mehr um hilfreiche Antworten, sondern um tief sitzende Gefühle. Dabei sind die meisten Ratschläge entweder abstrus oder beleidigend. Bis zu dem Punkt, dass jemand zu der Rettung beglückwünscht und einfach mal fragt, wie groß denn die Vase sei. Es stellt sich heraus, dass sie einen Durchmesser von 20 cm habe und 30 cm hoch sei, was schon beachtlich ist. Schnell legt sich der Sturm im Wasserglas und die Community einigt sich gnädig darauf, dass es wohl für zwei Wochen durchaus erlaubt sein müsste, in diesem Gefäß zwei Guppys halten zu können, ohne gleich eine Anzeige wegen Tierquälerei befürchten zu müssen. Herr Nipp atmet auf, gerettet. Die Guppys und die Retterin. Welch ein Drama. Er wird sich überlegen, ob er die anstehende Seuche mit kleinen Zahnkarpfen bekämpfen kann. Ob das überhaupt moralisch vertretbar ist, denn auch sein Behälter ist nicht größer. Und was passiert, wenn alle Mückenlarven gefressen sind? Fallen die winzigen Raubfische dann über einander her? Das ist das Lästige an kleinen Problemen, sie werfen stets neue Fragen auf und werden schnell zum Dilemma. Herr Nipp schüttet sich erstmal einen Gin ein, streckt ihn mit Tonicwasser, das ja früher wegen des Chinins auch gegen die Folgen der Malaria eingesetzt wurde, und gibt Eiswürfel mit Rosmarinblättern dazu. Lecker. Nach dem dritten Glas könnte er sich durchaus vorstellen, wie der Guppy aus dem Kleinbecken ins Ginglas hinüberspringt und ihm den Drink verfeinert. Das aber darf er niemals und nirgendwo erwähnen, die Reaktionen der Mitmenschen wären sicherlich unabsehbar.

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