Seit einigen Wochen hat Herr Nipp ein neues Hobby. Als schlichtes Gemüt, das er ja eigentlich ist, fällt es ihm normalerweise schwer, wirklich gefallen an einer Tätigkeit zu finden. Ist das aber einmal passiert, dann richtig. Was hat er schon alles in seinem Leben ausprobiert und es niemals zu echter Könnerschaft gebracht. Mineraliensammlung, Sammeln überhaupt, da gab es Briefmarken als Kind und Jugendlicher, Münzen auch eine gewisse Zeit und dann kamen irgendwann Druckgrafiken dazu, niemals in der Hoffnung, dass diese mal wertvoll sein würden, aber es war ihm spannend etwas über das Erschaffen von all dem zu erfahren. Aber sobald dieses Wissen dann zu speziell zu werden drohte, gab er sein Hobby auf. Eine Zeit lang hatte er natürlich auch Pflanzen gesammelt und eigene Fotos von möglichst vielen Pilzen. Darüber hätte er vielleicht auch gerne ein Buch geschrieben, musste jedoch feststellen, dass er einfach zu wenig Ahnung hat. Zumindest immer dann, wenn er sich mit echten Spezialisten unterhielt. Spannend hätte er es auch gefunden, vermutet er, Apfelsorten und andere Bäume zu sammeln. Aber dafür braucht man nun einmal einen Park oder ein riesiges Grundstück, und sein Fleckchen Erde, das er sich irgendwann zugelegt hatte, ist einfach zu klein. So hat er irgendwann etwas entdeckt, das er gerne macht, wahrscheinlich bis zum Ende gerne machen wird. Es ist ein Garten, der jedem Außenstehenden anmuten muss wie unerträgliches Chaos. Vermutlich werden sich vor allem seine Nachbarn mit Grauen abwenden. Das Gras vor dem Haus ist Ende Juni immer noch nicht gemäht, weil die Margeriten aussähen sollen. Und dazwischen stehen inzwischen viele Stauden, die er nicht kürzen will. Alant und Akeleien, Malven und Stockrosen. Erträglich wird es tatsächlich auch erst, wenn man von ihm über die Zusammenhänge aufgeklärt wird, die er sich denkt und manchmal ganz bewusst zusammenspinnt. Das kann er ganz gut, denn das meiste, was er in Büchern liest, behält er irgendwie, nur keine lateinischen Namen, das hat wahrscheinlich etwas mit seiner schulischen Abneigung gegen Latein und andere Fremdsprachen zu tun, die er immer nur als lästig empfunden hat. Dann redet er von Pflanzensoziologie und den Zusammenhängen zwischen Insekten und Pflanzen, von Vögeln und Kleinsäugern spricht er auch und irgendwie, das muss man ihm einfach zugeben, scheint auch alles Hand und Fuß zu haben. Nicht unbedingt, wenn man sich die Fachliteratur anschaut, denn er hinterfragt diese und bezweifelt oft, aber offensichtlich ist er ein ganz guter Beobachter, der Zusammenhänge herstellen kann. Schlichtheit besteht manchmal auch in klaren Blicken. Und vor allem ist er jemand, der nicht einfach sofort alles vernichtet, was ihn stört. Ja, er sieht wohl, dass die Schnecken ihm wieder einmal über Nacht die Kohlrabipflanzen verwüstet haben, das war im alten Garten nicht passiert. Dann fragt er nach den Zusammenhängen und ist sich sicher, dass nicht die Schnecken Schuld sind, sondern er selbst etwas falsch gemacht haben muss. Er sucht und findet nicht. Er findet keine Tigerschnegel und genau das muss es sein. Der Igel, der unter der Eibe haust, kann nicht alles leisten. Die Schneckengelege findet der nämlich mit Sicherheit nicht, das macht der Tigerschneck. Und, so seine These, wenn der fehlt, dann werden die anderen Weichtiere machen, was sie müssen. Fressen. Sie sind nicht boshaft. Er wird in so einem Fall mit Sicherheit nicht mit Schneckenkorn arbeiten. Warum sollte er sich den eigenen Garten vergiften, er hat schließlich sogar aufgehört zu rauchen, um die eigene Vergiftung niedrig zu halten. So schlimm ist es schließlich nicht, dass mal ein paar Pflanzen zu schaden kommen. Wenn das Ganze nicht stimmt, kann mit Einzelheiten nicht geholfen werden, dann muss seiner Meinung nach, das Ganze stimmig gemacht werden. Mit Gift geht das nicht. Er begreift auch den Garten als eine Form der Natur, eine künstliche Natur, soviel ist sicher, eine in gewisser Weise gebändigte und menschlich geregelte Natur, aber eben nur funktionierend, wenn gewisse Regeln des Zusammenlebens der Pflanzen und Tiere beachtet werden. Dann kann sich der Mensch gewiss sein, dass er dort immer wieder Erstaunliches entdecken kann. Und auch das ist Herrn Nipp wichtig. Jeden Tag, wenn er seine Tour durch den Garten macht, hier oder dort einige Samen erntet und an anderer Stelle wieder aussäht, einige auch in die Tasche steckt, um sie im nächsten Jahr zu nutzen. Jeden Tag, wenn er durch den Garten schreitet und hier oder dort ein Kräutchen zupft, es in den Mund steckt, wohlig in Gedanken darauf herumkaut. Jeden Tag wenn er sich im Garten bückt und irgendeine Pflanze betrachtet, die ihm bisher vielleicht noch nicht aufgefallen war oder ein Insekt, das ihn erstaunt. Alles das gehört nicht ihm, das ist klar, er weiß, dass er nur die unglaublich schöne Gelegenheit hat, sie als Gäste begrüßen zu dürfen. Pflanzen wie Tiere. Auf die Frage einer Freundin, warum er denn keine Bienenhotels im Garten habe, antwortet er genau so einfach, wie er simpel denkt. „Wo ich genügend Strukturen habe, die Insekten nutzen können, braucht es kein Insektenhotel. Es kann nicht aufgeräumt aussehen, wenn die ein Chance haben sollen. Insekten brauchen kein Hotel, das ist nur eine modische Oberfläche. Es braucht Blüten als Nahrung und natürliche Strukturen als Wohnung. Alles andere ist Baummarktmarketing.“ In seinem Garten kann man stolpern, weil er nicht so genau darauf achtet, dass alles ebenerdig ist. Überall liegen Steine oder Holzstücke, an verschiedenen Stellen hat er Hochbeete aus verschiedenem Stein aufgebaut. Bienen können sich auch Lehm holen, der an verschiedenen Stellen offen daliegt. Zwischen den Pflanzen allerdings ist kaum mal Braun zu sehen, weil er meint, dass offener Boden durch die Sonnenstrahlung geschädigt wird und außerdem mehr Wasser durch Verdunstung gebraucht wird. In seinem Garten findet sich fast gar kein Beton, kein sichtbarer auf jeden Fall. Die Waschbetonplatten aus den frühen Sechzigerjahren hat er bei einer Tauschplattform verschenkt und durch gebrauchte Natursteine ersetzt, die er über Monate auf einem Schuttplatz zusammengesucht hatte. Für ihn grenzt es an Wahnsinn, dass solche Werkstoffe einfach zu Split verarbeitet oder in der Deponie entsorgt werden, anstatt die wiederzunutzen. Die alten Waschbetonplatten liegen nun als Fundament eines Gartenhäuschens irgendwo in der Nachbarstadt. Das freut ihn. Die Einfahrt zur Garage wird gerade mit altem Steinen gepflastert, die er sich im Internet zusammenstoppelt. Hier 580 Steine, dort 300. Und genau das ist sein neues Hobby. Er sucht, findet oder besser noch wird ihm gefunden. Von einer Freundin dann meistens. Wenn der Preis akzeptabel ist. Gestern hat er wieder Steine abholt, Grauwacke, gebraucht. Leider ist die Oberfläche noch nicht glatt, aber das kommt mit den Jahrzehnten, da ist er sich sicher. Dass er dafür eine halbe Stunde fahren musste, findet er akzeptabel. Die Landschaft um Lippstadt herum ist durchaus mancherorts idyllisch, immer dort, wo die Landwirtschaft behutsam versucht, eine Lösung zwischen Landschaftsschutz und Wirtschaftlichkeit zu finden. Also fuhr er aus seinem geliebten Sauerland dorthin. Er fand auch das Haus, an sich ganz hübsch, rot gestrichen. Der Rest bescherte ihm blankes Entsetzen: Abgegrenzt durch einen Metallzaun, mit dunkelgrauen Plastikstreifen durchflochten, ein abgezirkelter exakter Rasen, kein Unkräutchen, klar unter zwei Zentimeter gemäht. Außen herum durch dunkelgraue Betonpflastersteine begrenzt. Auf einem Stück zwischen Haus und Zaun stehen zwei dunkelgraue Wellblechschuppen, Baumarktqualität, auf dunkelgrauem Betonpflaster. Alle Geh- und Fahrflächen ebenso exakt mit dunkelgrauen Betonsteinen belegt. Alles ist neu gemacht, kein Busch, keine Blume, keine Blüte, an keiner Stelle weicht etwas von Akkuratesse und Sauberkeit ab. Man kann es sehen, es wird sich nicht ändern, auf Jahre hin festgelegt, Jahrzehnte vielleicht. Die Maße wurden eingehalten, keine Unebenheit, keine Buckel. Die Natur ist ausgeschaltet. Der Rasen wird durch einen leise surrenden Roboter gemäht. An keiner Stelle ist Platz für ein Beet eingeplant. Alles sonstige lackiert, dunkelgrau, glänzend. So hat sich Herr Nipp immer die Tristesse eines Gefängnisses oder Arbeitslagers vorgestellt. Aber hinten in der Ecke, da entdeckt Herr Nipp ein Insektenhotel. Er lädt mit den zwei Helferinnen, die mitgekommen sind, ganz schnell das einzig Natürliche auf, was geblieben war, die Grauwackesteine. Auf der Heimfahrt meint eine der Mitfahrerinnen: „Baumarktopfer.“
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