Aussaat

Jedes Mal, wenn Herr Nipp durch die Stadt geht, hat er eine seiner Taschen mit Samen gefüllt. Entweder hat er die in einem Fachladen seines Vertrauens gekauft oder manchmal ist es auch eine Mischung aus eigenem Anbau. Dabei finden sich dann Mohnsamen, Akelei und Leinsaat, aber sicherlich auch immer wieder Ringelblumen, Erbsen, Wicken, Bienenfreund, Alant, Telekie und jede Menge anderer Sorten in der Jacke oder in der Hose. Er muss nur kurz in die Tasche langen und einige der kleinen Zukunftsträger herausfischen. Eine Freundin hatte ihm vor Jahren einmal gesagt, er müsse sich die Stellen aussuchen, für die sich niemand zuständig fühlt, um Laternenpfähle, an unzugänglichen Häuserecken, bei Glascontainern oder auf den Beeten von Parkplätzen, wenn er die einsäe, dann hätte auch niemand etwas dagegen. Gut, das betreibt Herr Nipp genau seit dieser Zeit, aber in den Jahren ist ihm außerdem aufgefallen, dass sich immer mehr Vorgärten in Steinwüsten verwandeln, die keinem Insekt mehr Nahrung liefern. Einige Menschen bezeichnen diese Ausartungen als Gärten des Grauens. Einfach und mit wenig Zeitaufwand zu pflegen, aber es sind eben auch echte Schandflecke, die im Sommer die Hitze der Stadt speichern und vergrößern. Also muss dagegen etwas unternommen werden. Abends, aber auch tagsüber also sät er eifrig auf allen Wegen, die er geht. Die heimliche Freude begleitet ihn, ja sogar Glück kommt auf, wenn er wenige Wochen später die kleinen Erfolge sieht. Da und dort keimen Pflanzen, manche einjährig, aber auch Stauden finden sich. einige von ihnen bringen es sogar zum Blühen und aussahen. Akeleien sind da sehr erfolgsversprechend, weil die Ameisen die Samen in ihre Nester tragen. Gelder Waldscheinmohn ist ebenso ein Hingucker, der inzwischen überall in seiner Stadt gefunden werden kann. Ja, der ist zwar nicht einheimisch, aber dafür sehr robust. Und sein Traum ist, dass die Stadt mit der Zeit immer bienenfreundlicher und bunter wird. Das ist natürlich nur eine Utopie, das weiß er selber, aber aber.
Und die größte Freude hat er, wenn er freundlich Menschen grüßt, die dabei sind, Unkräuter zwischen den groben Steinen ihrer Faulheit auszuzupfen. Und dann in ihrem Beisein die nächsten Samen fallen lässt.

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