Den Tag nicht vor dem Abend – die Nacht nicht vor dem Morgen

Es ist ihm einfach wichtig, das Gehen durch den Wald, querfeldein, die Wege, die ihm in die Quere kommen, möglichst schnell überwinden, queren. Eben querfeldein. Er geht nicht schnell, das muss wirklich nicht sein. Es reicht völlig, in aller Ruhe durch den Wald zu gehen, ruhig, gespannt und vor allem aufmerksam. Gespannt ist er vor allem auf alles, was er entdecken wird, vielleicht eine Pflanze, die er noch nicht kennt, vielleicht einen Vogel oder die Reste einer Mahlzeit, verbunden mit dem Fund von schönen Federn einer Elster. Vielleicht ist es aber auch ein Stein, der glitzert in der Sonne und bei Näherkommen völlig langweilig erscheint. Er weiß es nie, weiß nie, was passieren kann und wird, aber es ist niemals wie am Tag zuvor. Auch wenn er zehn Mal die gleiche Strecke geht, sie ist für ihn niemals die selbe. Da krabbelt ihm ein Käfer über den Fuß, dort bleibt er vielleicht an der nächsten Wurzel hängen und entdeckt dadurch etwas neues. Meistens geht Herr Nipp aber nicht allein, er nimmt Menschen mit, die nichts dagegen haben, durch Blätterhaufen, Dreck oder Matsch zu laufen, die sich dafür nicht extra anziehen, sondern die, wie sie sind, mitkommen. Ganz spontan, ohne Vorbereitung.

Die ersten Meter sind die beschwerlichsten, weil man eine Zuwegung sucht. Da muss der vorgegebene Weg genutzt werden, einige hundert Meter vielleicht oder auch einige Kilometer, dann aber geht der eigentliche Spaziergang los, plötzlich wendet er sich nach rechts oder links und steigt in den Wald, überspringt den Seitengraben. Plötzlich steht er in der Natur, oder zumindest in dem, was heute für Natur gehalten wird. Denn seien wir ehrlich, die modernen Wälder haben nicht mehr viel mit Natur zu tun, meist sind sie Monokulturen, entweder Buchen oder Fichten oder andere nützliche Wirtschaftsbäume, wenn sie denn nach zwei dürren Sommern und den verschiedenen Borkenkäferattacken noch stehen, es sind von den einst so reichhaltigen Brotbaumkulturen im Sauerland nur noch wenige übrig geblieben. Manchmal denkt er, dass aus dem Arnsberger Wald ein ehemaliger Wald geworden ist, Freiflächen mit Restbuschbeständen. Aber gerade das macht die Spaziergänge ja so interessant. Wo viel Licht ist, können andere Arten aufkommen, die Reste von vor Jahrzehnten untergegangenen Pflanzenbeständen erholen sich ganz plötzlich. Diasporen keimen.

Dieses Mal jedoch sucht er ausdrücklich keine Pflanzen, der Gedanke ist einfach, er will eine Abwurfstange finden. Nicht um sie zu behalten, er verschenkt solche Fundstücke immer. Ja, er weiß wohl um die Gefahr, in die er sich begibt, denn Abwurfstangen sammeln ist tatsächlich eine Straftat, zumindest, wenn man sie mitnimmt. Es gab tatsächlich eine Zeit, da hat er die knochigen Kopfgewächse an Bäume gebunden oder im Gezweig aufgehängt, welch ein Spaß. Na, es gibt wohl schlimmeres, denn die meisten Jäger haben ehrlich gesagt kein oder kaum Interesse an den Stücken. Und die wenigen Jäger, die wirklich interessiert sind, sammeln sie schließlich selber zeitnah ein.

Fast zwei Stunden haben die beiden nun gesucht. Die Begleitung meint, dass man ja nicht immer was finden könne. Aber plötzlich ragen die weißen Spitzen einer Sikastange aus dem Laub. Welch ein Fund so kurz vor Schluss. Herr Nipp grinst: „Man soll den Tag nicht vor dem nächsten Morgen verdammen.“

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