Grauen

Damit hatte Herr Nipp nun gar nicht gerechnet, als eine Freundin ihm so arglos gesagt hatte, dies sei eine echt tolle Serie, die er unbedingt mal gucken müsste. Eine abgeschlossene Serie mit einem möglichen Ende. Er mochte diese Art des Erzählens, nicht endloses Herumpalavern, ohne dass irgendetwas abzusehen ist. Er mag keine Serien, die immer neue Geschichten mit einflechten , damit der Zuschauer bei der Stange gehalten wird. Wenn Herr Nipp weiß, dass es einige Staffeln geben wird, die zu einem Ziel führen, dann ist es in Ordnung, bei anderen allerdings macht er dicht. Niemand braucht so etwas, denkt er. Vielleicht ist es ja noch ganz witzig, wenn es sich um abgeschlossene Episoden oder Kurzserien innerhalb einer Staffel handelt, alles andere, nein.
Diese Serie also ist abgeschlossen, ein moderner Roman, die offizielle Bezeichnung ist dann wohl Drama, dabei ist für ihn das Drama etwas völlig Anderes. Aber Film und Theater sind nun mal verschiedene Künste mit jeweils eigener Fachsprache, auch wenn die eine der anderen entlehnt ist. Ein Bild in der Malerei Oder eines der Bildhauerei ist schließlich auch nicht dem der Lyrik entsprechend. Was hatte er schon für Streitgespräche mit Freunden, nur weil keine Seite verstanden hatte, dass das Wort jeweils anders semantisch gefüllt wurde, nur weil es jeweils anderen Lebens- oder Kulturbereichen entnommen war.
Diese Serie jedenfalls bringt ihn an den Rand seiner nervlichen Belastung, und seine Nerven sind wegen der besonderen Situation wirklich angespannt, er kommt sich oft vor wie ein Bogenschütze vor dem Loslassen des Pfeils, nur dass er nicht weiß, wohin er überhaupt zielt. Alles ist im Ungewissen, die angenommene Realität seines Seins wie die virtuelle Realität der Serie. Alles bleibt im Vagen, unterlegt von dieser Musik, von diesen Klängen, die ihm tief unter der Haut treffen und dort Massaker anrichten. Und dabei, seien wir ehrlich, passiert im Grunde nichts, gar nichts. Alles wäre sicherlich in wenigen Minuten zu erzählen, ganz ohne Umschweife. Aber diese Bilder, die Klänge und letztlich wohl auch die Figurendarstellung stellen für ihn überzeugende Bestandteile dar.
Er wird die Serie bis zu Ende schauen, und wenn er alle fünf Minuten anhalten muss oder zur Not dazu T-Rex mit Marc Bolan hört. Ja, es ist das reine Grauen, aber er wird durchhalten, das hat er sich selbst versprochen. Und am Ende wird er wieder ruhig schlafen können.

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