Wind geht

Vor genau einem Jahr, denkt er, es war der Ostermontag des Coronajahres, des verlorenen Jahres, das Wetter hatte über Nacht eine andere rauere Färbung angenommen. Nicht mehr das lieblich frühlingshafte Geplänkel der vorzogen Tage war zu spüren. Als er in den Garten ging, prickelte die Luft wieder auf der Haut. Schon unter der Dusche hatte er bemerkt, dass es recht kühl war. Mit Gänsehaut hatte er sich sich abgetrocknet.

Man kann nicht sagen, dass Herr Nipp unbedingt einer der guten Reflektierer ist, er bleibt einfach nie bei der Sache, springt von einem Thema zum nächsten und bald hat er sicherlich dann auch sein Vorhaben vergessen. Aus diesem Grund muss immer wieder ein anderer die Aufgabe übernehmen, aus seinen Notizen zusammenhängende Texte zu verfassen. Mehr als Skizzen sind es selten, manchmal auch nur einzelne Worte, um die herum eine Geschichte erfunden werden muss. Zuweilen sind es es Listen, die als Zusammenhänge gemeint sind. Kontextlisten, ganze Tabellen davon. Da steht dann beispielsweise: Ostermontag, Corona, Wind, kalt, Fahrrad, Garten, Bänke, Akkuschrauber, Voegelhaus. Jetzt könnte man es sich natürlich einfach machen und daraus einfache Sätze gestalten. Die Aufgabe für einen Viertklässler:

Ostermontag, Corana hatte er noch nicht damals, der kalte Wind fegte durch den Garten, an den Bänken lehnte das Fahrrad, mit welchem er gestern noch eine Tour gemacht hatte, er würde sich gleich den Akkuschrauber nehmen und das Vogelhaus reparieren.

So fertig, würde ein einfaches Gemüt denken, aber das passt zu Herrn Nipp einfach nicht. Auch wenn sein Gemüt noch so einfach ist, er handelt anders oder zumindest enden sein Handlungen meist anders, als er sich das gedacht hat. Es ist wie eben schon so beschrieben, Herr Nipp beginnt einen Gedanken und endet an einer unvorhersehbaren Stelle. Etwa so:

Es ist wie jedes Jahr, so auch in diesem verlorenen Coronajahr, dass während der Ostertage das Wetter plötzlich umschlägt, von milder Frühlingssonne zu harter Nachwinterkälte mit frostigem Wind. Herr Nipp schaute aus dem Fenster, dachte mit Wehmut an den gestrigen Tag, die Fahrradtour zum See, die Menschen, die auf den Wegen viel zu dicht gingen. Riesige Kernfamilien, er wunderte sich immer noch, wie viele Menschen in einem Haushalt leben mussten. Beinahe hätte er einen Unfall mit fünf Kindern einer Großfamilie mit mindesten zehn Erwachsenen gehabt, typische Kommune der 20er Jahre. Er sieht auf den Ulmentisch, den sie vorgestern nach unten in den Garten getragen hatten, der heute unbedingt wieder unter Dach gestellt werden musste, bevor es beginnen würde zu regnen. Er öffnete entschlossen die Tür, sah neben sich auf dem Beistelltischchen den grünen Akkuschrauber und eine Packung mit Schrauben, griff beides, schritt ebenso entschlossenen Ganges zur Walnuss da unten, griff sich das Vogelhaus, kletterte damit in den Baum, schraubte es wieder an die vorgesehene Stelle, schaute von oben in die Nachbargärten, die ihm viel zu ordentlich waren. Nachdem er heruntergesprungen war, durchaus heikle Situation, weil er nunmal kein junger Hüpfer mehr war, ging er ganz zufrieden zurück zum Haus. Der kalte Wind wehte ihm über die Glatze, er fröstelte. Herr Nipp nahm Holz mit herein und entzündete den Kaminofen aus Gusseisen, der schon nach wenigen Minuten eine wohlige Wärme verbreitete. Das war ein wirklich lohnender Kauf gewesen in diesem Jahr. Erst als es zu regnen begann, fiel ihm wieder ein, dass der Ulmentisch immer noch ungeschützt da draußen stand.

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