Freunde


Es ist seltsam, denkt Herr Nipp, sehr seltsam. Sobald ich einen Einschnitt, eine Pause mache, wird es schwierig, wieder zu beginnen. Er ruft sich die Zeit ins Gedächtnis, als er selbst noch zur Schule ging. Oberstufe damals. In den Pausen raus, sehr schnell. Mit den besten Freunden, das waren nicht viele. Am letzten hat sich wenig geändert, viele Freunde, echte Freunde hat er nicht. Menschen, die viele gute Freunde haben, haben wahrscheinlich keine, denkt er immer wieder. Schon auf dem Weg auf den oberen Schulhof, welcher der Oberstufe vorbehalten war oder wahlwiese ins Jugendbegegnungszentrum an der unteren Schule wurde eine Zigarette gedreht. Meist mit stark parfümiertem Tabak, der ein wenig nach Pfeife roch, leicht süßlich. Gelbe Packung mit einem Perücke tragenden ernst Mann darauf. Buccaneer. Den gab es nicht überall, aber zwei oder drei Händler boten ihn in seiner Heimatstadt eben doch an und am gut sortierten Bahnhofskiosk konnte man damals wirklich jede Zigarettenmarke, jeden noch so abstrusen Tabak bekommen, nur die Aldi-Sorte Bantam nicht, die gab es nur im Billigdiscounter der Gebrüder Albrecht. Die starken Sorten hatte er damals nicht gerne geraucht, fertige Filterzigaretten nur, wenn sie ihm angeboten wurden. Sehr dünn gedrehte Zigaretten waren seine Spezialität. Angkommen stellten sie sich zusammen, als Dreieck, manchmal als Kreis. Alle anderen ausschließend. Wer den anderen den Rücken zuwendet, läuft nicht Gefahr angesprochen zu werden. Und davor hatten sie ja eigentlich Angst. Ihr Gehabe der äußerlich zur Schau gestellten Arroganz sollte die Menschen, die Mitschüler allemal, abschrecken, grundlegend und absolut. Keiner würde so die kleinen Unsicherheiten erkennen, die sich vielleicht in kleinen Gesten hätten ablesen können. Sie fühlten sich anders, sie wollten autark sein, sie unternahmen anderes. Sie schotteten sich von den Langweilern ab, von jenen, welche die Erartungen erfüllten, die nicht mit Bildern, Sprache, Schauspiel und Musik spielen konnten. Von den Mauerblümchen, die jedem ihre Angst, sich auf das Außergewöhnliche einzulassen, zeigten, den Angepassten, den Chickos, die jedem Modetrend hinterher liefen, die gedachte Großstadtkleidung nachäfften, anstatt mal Second-Hand anzuziehen. Sie grenzten sich in der schlimmen Zeit von allem und allen ab. Suchten ale Schlafanzüge mit Paisleymustern und nähten sie zu Hemden und Hosen um, verzierten ihre Hosen mit Stickereien und selbst entworfenen Zeichen, die keiner außer ihnen selbst verstehen konnte. Kaum einer verstand diesen Code, die geheimen Zeichen waren für Außenstehende nicht zu deuten. Die die falschen Ringe trugen, die flasche Frisur hatten. Letztlich waren sie auch Teil einer bestimmten Modeszene der ausgehenden achtziger Jahre. Aber sie fühlten sich wohl erhaben. Herr Nipp hatte es damals erlebt, dass Annäherungen an andere Gruppen höchstens im Vollrausch auf Parties möglich erschienen. Und meistens waren die Folgen ernüchternd gewesen. Wenn sie aber in den Pausen zusammen waren, ihre eigene Sprache mit seltsamen Wörtern sprachen, die Bedeutungen sich durch den Raum bewegten und sie diese an den richtigen Stellen ausprobierten und geschickt patzierten. Wenn sie ihre chiffrierten Botschaften wechselten, die für alle anderen unerschließbar sein mussten. Dann war es schwierig, diese Zeit des WIR auch nur für eine weitere Unterrichtsstunde zu unterbrechen. Dann wurde noch ein Kaffee für 60 Pfennig bestellt, noch eine Zigarette geraucht, noch eine Partie Backgammon oder Schach gespielt, wenn der Tisch leer war auch Billard. Dann wurde die Pause zum eigentlichen Lebenssinn, der fraglos in Raum und Zeit stand. Dann war es letztlich auch völlig egal, dass es demnächst wieder einmal Ärger geben würde. Solange aber der richtige Prozentsatz an Fehlstunden nicht überschritten wurde, hatten die Lehrer einfach keine Chance. Sie durften ihre Entschuldigungen schließlich selbst unterschreiben, sie waren achtzehn. Das Gefühl der Überlegenheit macht sie stark und die vielleicht unterschwellige Drohung, dass die Noten leiden würden, machte ihnen schon gar nichts aus. Sie waren nicht die Dummen, einen Text einmal lesen und der war drin. Pauken mussten die anderen. Die Fächer mit Nummerus Clausus wurden letztlich auch dadurch geknackt, dass nach dem Abitur sowieso erst einmal Zivildienst oder Bundeswehr, vielleicht eine handwerkliche Ausbildung an der Reihe war. Oder ein Jahr Nichtstun, getarnt als Praktikum. Nach zweieinhalbjähriger Lehre konnte jeder von ihnen zur Not auch Medizin studieren. Aber ehrlich gesagt wusste kaum einer, was sie wirklich machen würden.
Noch heute geht es ihm aber so wie damals. Nach Ende der Pause würde er sitzen bleiben und wenn schon keine Zigarette, dann doch zumindest eine große Schale Milchkaffee trinken. Er würde sich genüsslich in seinen grauen Schalenstuhl lehnen. Vielleicht würde ihn ein Anflug des des Gefühls von damals überkommen. Eine Ahnung zumindest. Davon sich jugendlich stark zu fühlen, die Angst vor allem, der Kitzel des Neuen, die Fähigkeit, jedes buch zur Not auswendig lernen zu können, den Spaß am bedingungslosen Rezitieren. Die Erinnerung daran, dass sie sich gegenseitig mit und im Vorlesen geschult hatten, dass sie gelernt hatten, die Formen der Dinge zu lesen, zu studieren und das Besonderezu erkennen. Immer dann bei Bedarf, wenn er selber eigentlich nichts zu sagen hatte, weil es noch nichts zu sagen gab. Es brauchte diese Zeit des Aufsaugens von allem, um zur Person zu reifen. Vor allem aber das Gefühl, zum ersten echte Freunde zu haben, denen er sein Leben anvertrauen konnte, pausenlos.

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