Trübe Tage

Die meisten Bäume hatten längst ihr Laub fallen lassen, manchmal, aber nur wenn es wirklich gut ging, leuchtete die schwächer gewordene Sonne durch die Äste und Zweige des Laubwaldes. Natürlich weiß jeder, dass die Sonne nicht schwächer geworden ist, sondern nur der Einfallwinkel der Sonnenstrahlen ein für das Wetter abkühlende Wirkung zeitigt. Sein beschnauzbarter Physiklehrer Herr O. hatte es einmal ganz einfach erklärt. Er hatte eine Taschenlampe genommen und sie senkrecht über ein Blatt Papier gehalten. Dabei wurde nur ein kleiner Kreis voll ausgeleuchtet. „Wenn ihr bedenkt, dass dies die zur Verfügung stehende Energie ist und dann das Papier kippt, werdet ihr sehen, dass eine viel größere Fläche mit der gleichen Energie abgedeckt wird, sollte jeder bemerken, dass jeder Punkt auf dem Papier nur noch einen kleinen Teil der zur Verfügung stehen Energie erhalten kann. Das Papier ist dann nicht mehr so hell. Wäre es jetzt eine dicke Glühbirne, dann auch nicht mehr so warm. Genauso ist das mit dem Winter bei uns.“ Solche Erklärungen konnte sogar der größte Depp verstehen. Da merkte man, dass dieser Lehrer aus der Praxis kam. Jenseits irgendwelcher abstrakter Theorien setze er diese in anschauliche Bilder um.
Der Frühling mit seinem zarten Grün, das gerade aus den kleinsten Zweigen treibt, schien ihm schon lange nur noch ein Zustand, der kaum noch denkenswert war, vielleicht als Hoffnung in einer weit entfernten Zukunft. Die jährliche Blütenpracht an allen Wegrändern, die von den meisten Menschen beflissentlich übersehen wurde, das Sprießen von unscheinbaren Pflänzchen, all dies war vielleicht denkbar oder hilflos zu erinnern, aber erschien in der grauen Jahreszeit eben nicht real. Jetzt roch es an jeder Ecke nach Moder und vergehenden Pilzresten, überall sah man Pfützen. Einige Nachzügler trieben wohl noch Blüten, aber das wirkte eher hilflos.
Herr Nipp hatte seine Wanderschuhe angezogen und war nun auf dem Weg. Wohin war ihm eigentlich vorher egal gewesen. Er hatte einfach den Rucksack gepackt, einige Fruchtschnitten, Ersatzsocken für alle Fälle, eine frisch mit Schutz versehene Regenjacke, man kann ja nie wissen, und eine Flasche Wasser, sowie einige Magnesiumtabletten gegen eventuelle Wadenkrämpfe. Das Portmonee und Ersatzwäsche durften natürlich auch nicht fehlen. Nein, das Wurfzelt und den superleichten Schlafsack hatte er im Keller gelassen, er würde sich irgendwo ein Zimmer nehmen, das hatte bisher immer ganz gut geklappt. Einfach mal ein paar Tage raus und den Kopf von allem frei bekommen, vor allem von den eingeschliffenen Routinen und jenen Kleinigkeiten und Zwisten, die ihm die letzten Wochen den Schlaf geraubt hatten. Ganz einfach hatte er sich das vorgestellt. Ohne Wanderkarte losziehen und immer so gehen, dass er geradeaus kam. Den ersten Versuch musste er am Abend abbrechen, als er zum zweiten Mal an der Stelle herauskam, an welcher er aufgebrochen war. Also schlief er diesen Tag zu Hause.
Früh morgens brach er wieder auf mit neuer Strategie, er würde immer abwechselnd links und dann rechts abbiegen, so auf neue Wege gelangen und schließlich damit weit weg vom eigenen Heim herauskommen. Jetzt konnte er zwar nur noch eine Übernachtung aushäusig machen, aber das war letztlich auch egal, es kam ja vor allem auf den Weg an. Er war eigentlich recht zuversichtlich, musste allerdings feststellen, dass schon nach dem vierten Abbiegen Schluss war, es handelte sich um eine Sackgasse, die tief in den Wald geführt hatte. Immerhin war es dieses Mal gute vierzehn Kilometer gut gegangen. Auf dem Rückweg fühlte er sich eigentlich ganz glücklich, war sogar frohen Mutes. In aller Ruhe ging er also nach Hause, schlief dort.
Der dritte Tag sollte noch einmal ganz anders angegangen werden. Er schnappte sich seinen alten Kompass und würde nur hauptsächlich in östlicher Richtung gehen, in den Wald hinein. Das sollte sich tatsächlich als gute Taktik herausstellen, weit weg zu kommen. Als es bereits dunkel wurde, befand er sich immer noch im Wald, also holte er sein Smartphone, nutzte die GPS-Funktion und musste feststellen, dass nicht weit von dort ein Ort lag. Von dort nahm er den letzten Bus heim. Zwar hätte er jetzt sagen können, dass sein Vorhaben gescheitert war, aber so sah er es nicht. Das Vorhaben erschien ihm gelungen, er hatte neue Gedanken und neue Hoffnung gefasst. Das Berufsleben erschien ihm nicht mehr so schlimm und eintönig und die paar Regentropfen, die ihn zwischendurch erreicht hatten, sollten sogar eine belebende Wirkung auf ihn haben. Auf den zugezogenen Himmel hatte er gar nicht geachtet, sondern die Kleinigkeiten am Wegesrand bewundert, er hatte sich sozusagen in eine Wunderwelt entführen lassen, in der es letztlich egal war, wo er sich befand. Das Gehen an sich erschien ihm wichtig, die Betrachtung und Reflexion, ohne noch an den sonstigen Alltag zu denken, im Wissen, die Sachen zu Hause auf dem Schreibtisch auch noch kommende Woche erledigen zu können.

Am nächsten Morgen berichtete ein Arbeitskollege von seinem wochenendlichen Kurzurlaub: „Waren ans Meer gefahren und dann die ganzen Tage so ein Scheißwetter, dass man nicht einmal an den Strand konnte. Sturmflut oder Regen. Fernsehgucken und blöde Kartenspiele, draußen nur trübe, kalte Suppe, da hätte ich auch zu Hause bleiben können.“

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