Unter Hunderten – Teil 1

Als er die Prozession am Pragser Wildsee mit Hunderten anderen Touristen geht, rund um dieses wunderschöne und gerade deswegen völlig überlaufene Gewässer mitten in den Dolomiten, in dem man sogar schwimmen kann, obwohl es so hoch liegt, fragt er sich schon wieder einmal, ob er dies denn eigentlich braucht. Reichlich langsam gegangen braucht es vielleicht anderthalb Stunden. Auf der linken Seite ist der Weg schmal und erinnert mit viel gutem Willen an so etwas wie an einen Bergpfad. Dort kann man in einigen Felsformationen sogar die Schopfrapunzel entdecken, auch Teufelskralle genannt, eine wundervolle großblütige Reliktpflanze aus der Eiszeit, die sich in einigen wenigen Tälern gehalten hat, so auch im Tschamintal beim Rosengarten. Den meisten Touristen fallen diese Pflanzen allerdings gar nicht auf, man muss nach oben zur Felsseite gucken und die meisten bewundern gerade die andere Seite, den See. Das leuchtende Türkis der Wasseroberfläche, in dem Tausende von winzigkleinen Fischen ihr Überlebensspiel spielen. Ein Freund hatte Herrn Nipp vor Jahrzehnten auf diese botanischen Raritäten aufmerksam gemacht. Jedesmal muss er an diesen längst Verstorbenen denken, der ihm als gerade Elfjährigem ein Stück weit die Tür zur Natur der Dolomiten aufgestoßen hatte. Noch heute trifft er von Zeit zu Zeit, also alle Jahre mal, dessen Sohn, der einige Kilometer entfernt wohnt. Er war es auch damals gewesen, der ihm die Schönheit der alpinen Orchideen gezeigt hatte.

Am Ende des Sees findet sich ein fast weiß leuchtender, breiter Kiesstrand, der teilweise ich das an schließende Geröllfeld übergeht. Direkt nebenan stehen frei einige Rinder herum, typisch alpinbeige, neuerdings auch diese hornfrei. Immer noch ein seltsamer Anblick, dass den Viechern die Hörner weggezüchtet wurden. Bei schönen Wetter ist dieser Strand von hunderten Sonnenhungrigen, mehr oder meist weniger schönen Menschen, die offensichtlich jene Zurückhaltung verloren haben, die Herr Nipp in den Alpen so schätzt, bevölkert. Fast jeder Zentimeter der Haut wird hier zur Schau gestellt. Innerhalb weniger Minuten ist die Höchststrahlungsrate erreicht, aber das wird großzügig ignoriert, so werden viele von ihnen abends aussehen wie Engländer auf Malle. So werden die blau geschwollenen Krampfadern, die Baulappen und unübersehbaren Wülste, die sich kräuselnde Orangenhaut der oberen Schenkel und die Hängebrüste vierzigjähriger Männer, die offen sichtbar keinen Sport außer der Trendsportart Kampftrinken betreiben, jedem Anthropologen sicherlich ein gern gesehenes Forschungsfeld über menschliches Treiben, für alpine Fragwürdigkeit von Ästhetik. Ja, auch Rubens mit seinen sprichwörtlichen Frauendarstellungen und Lucien Freud hätten ihre Freude hieran. Im wahren Sinne ausschweifendes Beobachtungsmaterial. Die hier lagernden Herden, seien es Rinder oder menschliche Familien sind nicht zum Wandern hierher gekommen. Auf Herrn Nipp wirkt das ganze Arrangement im zügigen Vorübergehen eher wie eine kostenpflichtige Freakshow eines amerikanischen Wanderzirkus, mit dem Unterschied allerdings, dass man hier abgesehen von den Parkgebühren  keinen Eintritt zahlen muss. Letztere sind allerdings im Vergleich zu Großstädten gar nicht so hoch.

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