Schnell noch eben

Ja, natürlich hatte er die Uhr vor Augen und vor allem immer im Blick gehabt. Er wusste schließlich, dass es in manchen Situationen einfach darauf ankommt, zum richtigen Zeitpunkt aufzukreuzen, vor allem, wenn das versprochen wurde. Es würde ein super Abend werden, sie würden einen alten Bekannten mit Bier und Wein und Filmen bewaffnet überfallen, ohne Vorwarnung, sein Wohnzimmer besetzen und dort die Nacht des ewigen Einerlei vertreiben.

Sein Radiosender würde wie gewohnt die Nachrichtensendung bringen, dann hätte er noch zehn Minuten Zeit, sich die Hose und das Shirt anzuziehen, sich auf das alte rote Klapprad zu schwingen, natürlich elanvoll. Er müsste nur die lange Straße bis zur Stadtmitte herunterrollen und dann würden die anderen Männer dort schon warten, seine Freunde, mit denen er diese Idee in die Tat umzusetzen gedachte, den alten Freund endlich wieder aus dem Trott zu holen. Der sich zurückgezogen hatte von der Welt, nachdem seine Freundin Schluss gemacht hatte. Jetzt aber war es noch ungefähr eine halbe Stunde hin, die er sinnvoll füllen würde, denn das Faulenzen ist Herr Nipps Sache nicht, also schnell in den Keller, die fertige Wäsche auf die gespannten Schnüre hängen, kurz in den winzigen Garten und einige Beikräuter zupfen, die ihm ästhetisch nicht so sehr behagten, so zum Beispiel Lattich und Giersch (dessen junge Blätter immer in seinem Mund verschwanden). Einige abgeblühte Blüten der rosa Kletterrose entfernen, die immer noch nicht geklettert war, dabei sicher auch an die Unerreichbarkeit, die Zukunft denken, für die er die Rose gepflanzt hatte. Eigentlich hätte es eine blaue Rose sein sollen, aber die gab es gar nicht. Romantische Spinnerei.

Die Pflaumen pflücken, die schon reif waren. Draußen traf er einen der Nachbarn, der immer gerne einen kurzen Plausch über den Gartenzaun machte, wohl um neuen Tratsch zu erfahren. Schließlich lässt es sich im Freundeskreis doch herrlich über die Nachbarn berichten, die kleinen Missgriffe und Fehler schrotzen. Ein paar Minuten und eine Zigarettenlänge später hatte er diese Kür der gezielten Desinformation, der gewählten Wortspitzen absolviert, die Saat der mentalen Wildkräuter ausgetragen.  Er brachte seine Ernte ein, immerhin fast ein viertel Kilogramm der herrlichen  violetten Früchte, die für ihn immer ein kleines sündiges Vergnügen waren, solange noch frisch gepflückt. Ein Vergnügen, das normalerweise gewisse Folgen zeitigte, denn schon kurz nach dem Genuss des herbsüßen Steinobstes meldete sich gewöhnlich der Verdauungsapparat mit einem gewissen drängenden Gefühl. Also schnell die reifen Renekloden verputzt und noch schneller eben auf das stille Örtchen. Zeit war jetzt knapp. Auf der Fensterbank wie immer ein Buch, dieses Mal ein Roman von A.J. Weigoni „Abgeschlossenes Sammelgebiet“ über die Phase kurz vor und kurz nach dem Mauerfall 1989/90. Herr Nipp hatte das Verhältnis seiner eigenen Textchen zu denen des Herrn Weigoni für mal in folgende Wörter gefasst: „Wenn mein Schreiben ein Werfen und ungeschickte Auffangen eines Balles ist, dann jongliert der andere mit sieben Fünzigkilogewichten gleichzeitig mit Leichtigkeit.“ A.J.Weigoni hatte geschickt gezeilt verletzend gekontert: „Was du schreibst, hat mit Kunst gar nichts zu tun.“ Replikenaustauscher.

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Aber nun diese Seiten. Komplexe Sprache, bei der ein Satz, ein Wort oder Absatz zwischen Lyrik, Epik und Essay spielt. Immer auf das äußerste verdichtet. Die Menschen sprechen hier eine reflexiv verdichtete Kunstsprache, die niemand im Alltag so nur wenige Minuten würde durchhalten können. Durchleuchtung der Lebensumstände. Analyse der Lebenszustände. Zerpflückung der Lebensbestände. Herr Nipp konnte sich nicht losreißen, musste das kurze Kapitel, ein liebevoll distanziertes Wortgefecht der beiden Protagonisten, wieder und wieder lesen, nur, um endlich zu verstehen, den Sinn zu begreifen, die Nuancen der möglichen Verständlichkeit auszuloten. Kaum einmal hatte er es erlebt, dass jemand solches Gedankenmaterial seine Figuren sich gegenseitig um die Ohren schleudern ließ. Ein Buch, das gelesen werden wollte, auch wenn es viel Zeit kosten würde.

Als es an der Tür klingelte, ärgerte er sich schon ein bisschen. Kann man denn nicht einmal in aller Ruhe auf dem Topf sitzen und sich seiner Lektüre hingeben? Gibt mir nicht einmal jemand die Zeit, mich in die Gedanken und Denkwelten eines Anderen eintauchen zu lassen? Aus Trotz wollte Herr Nipp nicht aufstehen, las die letzten Sätze noch einmal. Es klingelte wieder und wieder. Es blieb ihm nichts, als aufzustehen. Zu öffnen.

Seine Freunde standen vor der Tür, hatten das eigentlich zu besuchende, zu tröstende Gewohnheitstier mitgebracht, zwischen sich einige Kisten Bier, einige Flaschen Wein und zwei Video-CDs für den weiteren Abend. „Länger als eine Stunde warten wir nicht. Wenn du nicht zu uns kommst, dann kommen wir zu dir.“

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