Digitales Sammeln

„Wenn im Herbst die Sonne durch das Oktoberlaub scheint, wenn sich zwischen den gräulichen Wolken ein strahlend blauer Himmel zeigt, dann zieht es immer mehr Wanderer in den Wald. Dann werden die Schuhe geschnürt und durch die Landschaft geht es auf Schusters Rappen. Ich wünsche ihnen einen schönen Oktobertag, mit langen und erholsamen Spaziergängen und intensiven Wandererfahrungen.“, tönte es aus dem Lautsprecher seines Küchenradios. Draußen leuchtete tatsächlich das Laub der Bäume, tatsächlich lugte ein unglaublich intensives Blau durch die Wolkendecke, tatsächlich zeigte die Witterung dieses unvergleichliche Mischverhältnis von Feuchte und angenehmer Kühle. Er hatte das Fenster geöffnet, den Wind in die kleine Wohnung gelassen, einmal durchziehen, um die nach Quitten riechende Luft auszuwechseln. Als der Kaffe aufgesetzt war, kam sein Besuch, der sich kurzfristig angemeldet hatte, mit den frischen Brötchen. Der Kaffeeduft lag schnell als feiner Hauch im Raum. Behagliche Atmosphäre. Intensive Kommunikation.

Irgendwann aber wollte Herr Nipp heraus, machte die kurze Frage und fand schnelle Zustimmung, die Schuhe geschultert ins Auto geschwungen.  Einige zehn Minuten Autofahrt mussten leider in diesem Fall sein, aber das renaturierte Naturschutzgebiet in der Umgebung des sauerländer Möhnesees lockte doch zu sehr. In der Nähe des Dörfchens Neuhaus, hatte man in den letzten zwei Jahren die Große Schmalaue entfichtet, die alte mäandernde Bachführung wieder hergestellt. Dort sollten sich Erlen allein ansiedeln oder andere Laubbäume, natürlich würden zuerst die Pioniere, gemeine Birken, kommen, die haben schließlich die effektivsten Samen, welche über Kilometer hin durch die Luft schweben können. Teilweise wurde die ganze Maßnahme auf Tafeln den Wanderern erläutert, dort wurde auch gezeigt, welche Tiere man hier sehen könnte, wenn sie denn schon da wären. Egal, diese offene Auenlandschaft zeigt schon jetzt eine unglaubliche Idylle, die in den nächsten Jahren nur noch weiter wachsen kann.

Die beiden Wanderer hatten ihre Rucksäcke gepackt, Mineralwasser, Birnen, Äpfel und natürlich eine Tafel Schokolade, weiteres Zeugs und die Kamera mitgenommen. Neben der allgemeinen Wanderung wollten sie Pilze sammeln.

Überall im Wald konnte man in diesem Jahr reiche Pilzbeute finden. So viele Steinpilze, wie man selten in den letzten Jahrzehnten verzeichnet hatte. Ob Pfifferlinge, Reizger, Perlpilze, alles war vorhanden. Herr Nipp konnte beim Referieren über die verschiedenen Arten und ihre Standplätze nicht nur enervierend wiederholend werden, sondern spielte auch noch ganz bewusst damit. Damit das jeweilige Gegenüber auch wirklich das Prinzip, welches hinter dem Wachstum steckte, verstand. Dann erzählte er über die Beziehung zwischen den Bäumen und der Mykorrhiza, den Wechselwirkungen bestimmter Pilzarten.

Warum man fast immer in der Nähe von Fliegenpilzen Steinpilze finden konnte, warum immer dort, wo die Wildschweine gewühlt haben, bestimmte Arten auftreten. Dass Rotkappen immer in der Nähe von Espen stehen, Goldröhrlinge aber bei Lärchen. Zuweilen brach er auch mal einen Teil eines Pilzes ab, zum Beispiel von einem Champignon, der sich durch Oxidation ins warme Braunrosa verfärbt, von einem Safranschirmling, dessen weißes Fleisch tatsächlich safranfarben wird. Der König allerdings ist natürlich der Hexenröhrling, der sich fast auf die Sekunde nach dem Schnitt oder Bruch ins Blau und später Dunkelviolett kehrt. Von vielen Sammlern als giftig verachtet, tatsächlich ein guter und ergiebiger Speisepilz.

Er schnupperte an den verschiedenen Sorten und erzählte, er habe gelesen, dass der tödlich giftige Knollenblätterpilz sogar gut schmecke. Dass Wildschweine ihn ohne Schaden fressen können. Dass der Fliegenpilz gar nicht tödlich sei, dafür allerdings heftige Rauschzustände auslöse, weil er ähnliche Stoffe enthalte wie der Pejotekaktus aus Amerika. Dass man den Parasol, den Riesenschirmling am besten mit Panade wie ein Schnitzel zubereite. Dass man einige Arten gut trocknen könne, andere Arten, wie den Tintling, allerdings überhaupt nicht. Er wurde in solchen Fällen zu einem Wortwasserfall, einem fast unerträglichen Schwall der Rede. Er konnte sich darüber aufregen, dass einige Menschen nicht genug bekommen könnten und ohne Rücksicht auch in Schutzgebieten sammeln. Teilweise Gruppen von sechs bis acht Männern, angerückt in Kleinbussen, die  jeweils mit drei vier Eimern bewaffnet, systematisch komplette Gebiete ausräubern. Tatsächlich scheute er sich auch nicht, dies bei einigen Leuten anzumerken, die sich dann meist mit faden Ausreden verteidigten. Es sei doch genug da und nur einmal im Jahr könne man schließlich ernten. Andere aber waren sprachlich gar nicht in der Lage zu verstehen oder gar zu antworten.

Ja, auch sie wollten an diesem Tag Sammeln gehen. Nicht mit Messer und Korb bewaffnet, sondern mit eben jenem digitalen optischen Aufnahmegerät. Sie wollten sich einfach nur an den Schönheiten der Natur ergötzen, ohne in dieses Gefüge einzugreifen.

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