Die Herbstbraune

 Genau in diesem Moment fiel die Kastanie, ob in Bewusstsein, falls Pflanzen so etwas überhaupt besitzen, oder aus reinem Zufall, aber das kann hier nicht eindeutig  geklärt werden. Es bedürfte wohl einer umfassenden Untersuchung sämtlicher Parameter wie Temperatur, Lage des Fruchtstandes am Baum, der Luftfeuchtigkeit und etwaigen Windes, der durchaus in der Lage ist, die Situation nachhaltig zu beeinflussen. 

Andere Faktoren wie Reifungsgrad oder Einwirkung von Nützlingen wie Schädlingen auf die Verfassung des Gesamtkomplexes, des Mikroklimas und des Bodens, auf dem seit Jahrzehnten ein Leben sich abgestrampelt hat. Letzteres natürlich nicht im wörtlichen Sinn, denn jeder weiß ja schließlich, dass Bäume höchstens mal im Frühling ausschlagen, aber niemals strampeln. Sollte doch einmal jemand ein solches Verhalten beobachten, möge er mich bitte kontaktieren, dann natürlich werde ich diesen Anfang einer Geschichte unter Berücksichtigung der neuen biologischen Erkenntnisse neu verfassen. Soweit mir nämlich bekannt, kommen sich eigenständig bewegende Bäume hauptsächlich in Märchen und der ihnen verwandten Fantasyliteratur zu ihrem großen Auftritt. Angetan haben es dem Protagonisten dieser Zeilen vor Jahrzehnten schon jene unglaublichen langsamen Ents eines Herrn Tolkien. Jene Wächter des Waldes, die selber in der Gestalt uralter Bäume unter diesen wandeln, wenn sie nicht gerade ein paar Jahre Pause an der gleichen Stelle machen. Wohl weniger aus Faulheit, sondern weil sie in sehnsüchtige Gedanken verfallen sind und ihren abhanden gekommenen Frauen nachtrauern.  

Die alten Griechen hätten diesen Kastanienfall jedenfalls und wahrscheinlich Fügung oder Felix genannt, was dann sowohl Zufall, Schicksal und Glück zusammenfasst. Der aufmerksame Leser merkt wieder einmal, dass ein Wort das andere ergibt und der Texter so mal wieder schnell und unbedacht vom Sinn der einzelnen Vokabeln in die gedankliche Ferne weggelockt wird und so entstehen Texte, die auf den ersten Blick hier gar nichts zu suchen haben. Ist es denn nicht eigentlich so, dass die Wörter ihr Eigenleben besitzen, sie wandeln umher wie jene Ents und siedeln sich an Stellen an, an welchen wir sie nicht oder kaum erwarten würden. Und plötzlich stolpert ein Autor über die Wurzel, die eigentlich ein gestelltes Bein ist, das dieses erfundene Buchstabengebilde in den vorgeplanten Weg ausgestreckt hat. Er muss sich an irgendetwas festhalten und beginnt fast zwangsläufig ein Geländer, zumindest aber einen Stabelstock aus weiteren phonetischen Sinneinheiten zu zimmern, damit er sich auf keinen Fall im Fall die Nase aufschlägt. Ein Stolperwort lässt nur den einfach strukturierten Zeitgenossen arg verletzend straucheln, alle anderen, und die stellen die Mehrheit dar, werden in wenigen Sekundenbruchteilen zumindest ihr Rettungstuch spannen oder viel besser noch das Kissen positionieren und  gekonnt sich über die Schulter abrollend wieder auf den Füßen zum Stehen kommen.  So muss jede kleine semantische Falle letztlich dazu führen, dass Besinnung und Reflexion Einzug in die Situation finden und genau hiermit hat Herr Nipps Erzähler den Bogen geschlagen. Er kann nun mit zwei neuen Begriffen jonglieren, welche die Hauptfigur betreffen. Natürlich kann jetzt angemäkelt werden, Wörter und Begriffe seien wohl kaum zur Jonglage geeignet, kaum im freien Raum als freie Radikale wirksam, die in sich zusammenfallen, sobald einmal ein Moment der Unachtsamkeit entsteht. Wenn der Vagant jedoch einen seiner fünf Bälle fallen lässt, dann lächelt er entweder seinen Fehler ganz devot hinweg und wird auch noch mit Applaus bedacht oder aber er wird in aller Arroganz sicher zielsicher von einer und der anderen faulen Frucht getroffen, auf dass er wegen blauer Flecken die nächste Nummer kaum hinkriegen kann. Ein Schreiber jedoch arbeitet nicht in der freien Luft, gebunden an die physikalischen Gesetze, die kann er schließlich, wie oben schon beseelt angedeutet  ganz einfach aushebeln. Hieß es nicht in jenem romantischen Gedicht „Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken…“. Zumindest ähnlich scheint es mir in den Ohren zu klingeln, wenn nicht zu klingen. Der Wortrücker nimmt sich die Frechheit, die Freiheit – und wahrscheinlich hat er sogar eine Pflicht hierzu – eine Welt nicht nur zu beschrieben, sondern weiterzuentwickeln, er verändert die Parameter bis hin zur freien Erfindung. Manchmal entbindet er sich sogar selber von den Gesetzen des Satzbaus, der Interpunktion oder gar grammatischer Grundgesetze. Er kann das einzelne Wort in die Welt setzen und verclustern, wie es ihm gerade passt. Manchmal auch im schmerzhaften Sinne einer gedrechselten Gedankenverdrehung, deren Logik man kaum noch zu folgen mag. Aber das ist weder des Herrn Nipps Aufgabe, noch die seines Autors. Eigentlich nämlich geht mal wieder die Zeit des Wartens viel zu langsam vorbei und schon beginnt der Erzähler vom eigentlichen Erzählen abzuschweifen, ganz verliebt in einen Gedanken, der sich gerade auftut, vielleicht auch gerade deshalb, weil jedes Wort eine Welt sein kann. Jeder Augenblick die Ewigkeit enthält. Und genau hier beißt sich, um es einmal ganz allgemeinverständlich zu verbildlichen, die Katze in den eigenen Schwanz. Vielleicht auch ein Hund oder Wisent, wer kann das schon sagen.

Nach diesem Einschub muss der eigentliche Text nun sein Ende finden, indem ich ihn beginne.

Er wusste noch, dass die älteren Mitschüler in den achtziger Jahren auf sogenannte Exerzitien fuhren, bei denen man sich vom Alltag für einige Tage, ein langes Wochenende entfernen konnte. Um in sich zu gehen. Um vielleicht auch nach dem Grund zu suchen, dem Grund für alles, versteht sich. Dort wurde dann auch gemeinsam gebetet und gesungen, dort wurde intensiv diskutiert  und abends kreiste wohl nicht nur die Flasche Bier. Aus dem schwierigen Begriff, den niemand je so richtig verstanden hatte und der mit der Zeit auch immer enger religiös ausgelegt worden war, hatte sich die wunderbare Wortfügung „Besinnungstage“ entwickelt. Man muss wissen, dass nicht nur das gesellschaftliche Leben sich von den Gedanken der späten sechziger Jahre immer weiter distanzierte, auch die Amtskirche erlebte innerhalb der  Priesterschaft eine arg konservative Gegenbewegung zu den Bestrebungen des 2. Vatikanischem Konzils. Glaubten diese erzkatholischen Geistlichen doch tatsächlich, mit einer rigiden Glaubenspolitik die abtrünnigen Menschen zurückholen zu können. Leider hatten sie dabei wohl übersehen, dass man nur die Menschen erreichen kann, die auch angesprochen werden und wenn man nur innerhalb der Kirchen, nämlich von der Kanzel oder moderner vom Ambo, spricht, in die nur noch sehr wenige gehen, so kann man eben auch nur diese erreichen. Und das sind in der Regel kleine Kinder, kurz vor der ersten Kommunion oder eher ältere Grauköpfe. Die Realität aber spielt sich irgendwo da draußen ab, durchaus mit Glauben, aber großer Individualisierung. Diese Exerzitien jedenfalls sprachen irgendwann nur noch ein sehr eingegrenztes Publikum an. Hörige. Dann wurde der Zustand für kurze Zeit als „Tage religiöser Orientierung“ bezeichnet. Vor allem über Schulen sollte damit eine Art von Missionierung von innen gestartet werden. 

Inzwischen aber war ein großer Teil des Evolutionsvorgangs dieser Gesellschaft abgeschlossen, man hatte sich an die Situation permanenten Friedens und die Einbindung in ein großes politisches System, dem Europas gewöhnt. Man hatte sich auch daran gewöhnt, ein sehr personenspezifisches spirituelles Leben zu führen. Fernab des Lokalpatriotismus hatten die Menschen erkannt, dass nur eine friedliche Staatengemeinschaft in Zukunft existieren kann.  Abgesehen vom gelegentlichen Murren darüber, dass immer die Gleichen für diesen Zustand zu zahlen hätten, merkten die Menschen, dass es ihnen doch recht gut ging. Dieses Leben im Luxus aber hatte letztlich auch Auswirkungen auf die Form der Angebote in katholischen Einrichtungen. Abgerückt vom Missionieren, erfand sich die Weiterbildung an solchen Jugendhäusern neu und setzte darauf, dass die jungen Menschen quasi nebenbei  eine Glaubenssehnsucht entwickeln sollten, die aber niemals explizit benannt oder auch nur angedeutet wurde. Jetzt hatte sich die Bezeichnung „Orientierungstage“ durchgesetzt. Was immer das bedeuten sollte, hatten die Dozenten und Referenten in vielen ihrer berühmt- berüchtigten Konferenzen ermittelt.

Letztlich aber konnte Herrn Nipp  das in seiner derzeitigen Situation  mehr oder weniger völlig egal sein. Er war lediglich gebeten worden, doch bitte mit zu fahren, tagsüber, wenn die Jugendlichen keine Seminare hatten, sollte er sie durch Aufsicht erfreuen (bespaßen) und abends anstatt des eigentlichen Verantwortlichen, der kurzfristig erkrankt war, betreuen. Die Zwischenzeiten konnten dabei schon mal sehr lang erscheinen. Und was macht der gelangweilte Mensch? Er sucht sich einen irgendwie gearteten Ausgleich, spazieren gehen zum Beispiel oder die Turnschuhe angezogen und durch den Wald joggen. Dabei kam er am Wildschweingehege vorbei, die darauffolgenden Tiere, wie Tarpane, eine nachgezüchtete Wildpferdrasse, die verschiedenen Wisentarten, die vorgaben, ursprünglich zu sein, und letztlich auch nur Nachzüchtungen waren,  fanden so viel Aufmerksamkeit, dass er zeitweilig das Laufen einstellte. Diese urigen Tiere wissen zu beeindrucken. Wer ein Beispiel für die Schönheit der Unförmigkeit haben möchte, sollte sich einmal dem Betrachten von Wildrindern aussetzen. Er war ganz in Gedanken versunken. Über den Sinn und die Praxis der Orientierungstage, die Schönheit der Natur und das ewige „was wäre gewesen, wenn“. Und genau zu diesem Zeitpunkt löste sich die besagte Kastanie aus ihrer Restschale, prallte auf einen Ast und traf ihn gezielt knapp über dem linken Auge, hüpfte noch einmal auf der Straße einige Meter und blieb dann im Randgras liegen. Herr Nipp fasste sich an den Kopf, wunderte sich und hatte beim Anblick der braunen Herbstschönheit seine sämtlichen und vor allem sehr wirren Grübeleien vergessen.        

                                                                                                                                                                                                                                     
                                                                                                           

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