Bookdating

Während ihm eine völlig fremde Person gegenüber sitzt, juckt Herrn Nipp das linke Knie. Kein angenehmes Jucken, eher das Gefühl eines überflüssigen Dauerreizes, welcher jeden Menschen auf kurz oder lang , wohl oder übel, früher oder später, auf jeden Fall aber mit absoluter Sicherheit in den fassungslosen Wahnsinn treiben kann. Vergleichbar vielleicht mit der Gewissheit, während man unbedingt und ganz nötig zum stillen Örtchen muss, dass der Vorgesetzte sein einberaumtes Dienstgespräch noch lange nicht als beendet betrachtet. Ein Jucken also, welches mit jedem Moment noch schlimmer wird. Man stelle sich einen Gefesselten vor, dessen vorher mit Salzlake bestrichene Füße nun von einer Ziege abgeleckt werden. Der Leidende kann nichts tun und ergibt sich seinem geradezu pathetisch schicksalhaften Leiden, wird im wahrsten Sinne des Wortes passiv, eben leidend. Herr Nipp erträgt die vom Schicksal auferlegte Bürde heldenhaften Mutes, wird weder die Beine gegeneinander reiben, noch das vielfältigste Werkzeug auf diesem Erdenrund  zum Kratzen benutzen, die Hand. In dieser Situation sich zu kratzen, sich kratzen zu müssen, wäre es nicht nur unhöflich, sondern geradezu ein Vergehen, ja, vielleicht ließe sich ein solches Handeln gar zu einem gewissenlosen Verbrechen am Intellekt des Anderen stilisieren. . Lieber diese innere Unruhe ertragen, als ein solches Fehlverhalten riskieren. Daran musste er in diesem Moment des wahrhaftigen Martyriums denken und sah sich schon als heldenhaften Überwinder sämtlicher Fährnisse, die dem Menschen entgegen kommen. Mit grauen und flatternden Haaren wie verzaustem Bart steht er auf der Brücke des alten dreimastrigen Segelschiffes und kämpft gegen die Unbilden der Natur. In Anbetracht  einer Buchhandlung mit den Ausmaßen eines Supermarktes.

Sein Gegenüber erzählt von seinem Lieblingsbuch, hat genau zwei Minuten Zeit, ihn zu überzeugen. Bookdating. Sogar der Erfinder ist erschienen, um den Erfolg dieser allerersten der geplanten und noch zu planenden Veranstaltungen selbst zu sehen. Sich im Licht des Erfolges zu sonnen und die Seele zu bräunen, als läge er an einem Strand in der Karibik oder im Sonnenstudio. Er will sehen, ob sich ein einfacher Gedanke trägt, ob er demnächst in seinem in Dortmund zu gründenden Laden ähnliches anbieten kann. Immerhin sind nach einem leisen Aufruf rund 14 Leser erschienen. (Der Leser wird sich fragen, warum rund 14 Leser, denn Menschen kann man eindeutig zählen, sie stellen keine abzuschätzende Masse dar. Zumal, wenn es sich um solche geringe Zahlendimensionen handelt. Nun, das wird sich noch im Laufe dieser kleinen Geschichte erklären, denn nicht jede anwesende Figur ist das, was sie auf den ersten Blick scheint.) Ein kleines, selbst ausgedrucktes Plakat hatte auf diesen Termin verwiesen und daneben wurde von irgendjemandem in irgendeinem sozialen Netzwerk irgendeine Werbung gemacht. Die Anwesenden hatten das Gefühl, endlich mal ein oder zwei Leuten ganz persönlich ihre liebste und ans Herz gewachsene Lektüre vorstellen zu können. Es ist einfach ein Unterschied, ob man in irgendeinem Forum recht anonym über irgendetwas schreibt, oder beim Vortrag einem Menschen aus Fleisch und Haut in die beweglichen, bewegten und bewegenden Augen schaut. Das ist kein Zwischennetzmarktplatz, auf dem nur mehr oder weniger, aber sicher doch irgendwie gelangweilte Nerds auf Input warten. Hier wird niemand für ein missbräuchlich gebrauchtes oder missverstandenes Wort mit üblen Kommentaren überhäuft, hier wird sich kein Shitstorm entwickeln, nur weil ein sogenannter Troll mal wieder Lust hat, Stunk zu machen. Hier kann der Vortragende direkte Reaktionen sehen und die gehen von ehrlicher Abneigung gegen das vorgestellte Buch bis hin zur völligen Faszination, und sei es nur, weil das Gegenüber an den stechenden Augen des Gegenübers hängen bleibt.

Während Herr Nipp also dieses oben  für die Verhältnisse des Schreibers breit beschriebene, vor allem aber immer noch unangenehme Jucken am Bein hat, während er sich quälen lässt von einem Stören. (Näher lässt sich der Auslöser nicht beschreiben, weil weder der Betroffene noch der Leser, wahrscheinlich auch nicht der Erzähler weiß, worum es sich handelt, nur wer selber schon solcher Situation unterlag, weiß worüber hier geschrieben wird, stellt ihm ein Gegenüber sein Buch vor.)

Nein, um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden oder gar künstlich irgendwelche Missverständnisse aufzubauen, der hat es natürlich nicht selbst verfasst, aber ist in der Verfassung, es als seines zu begreifen, da er mitten drin steckt oder steckte, seine Seele vielleicht sogar angerührt war, so es eine Seele gibt oder zumindest dieser hier eine solche sein eigen zu nennen behauptet. (Der geneigte Leser wird sicherlich verspüren, dass der Texter immer wieder versucht, egal an welcher Stelle, jeglichen Hauch einer Missverstehensmöglichkeit auch schon im Keim zu ersticken. Niemand soll auch nur ein Bruchstück einer Zeile in seinen Mund legen können. Kein Wort ist hier von irgendeiner Form der leichten oder angreifenden Ironie geprägt. Jeglicher vielleicht vom Leser erwartete Sarkasmus soll von diesem Moment an verbannt sein. Kein Angriff, auch noch so leiser Natur, soll hier in Zukunft gefahren werden. Niemals noch wird der Nebelstreifen einer angedeuteten Kritik in Zukunft spürbar oder sichtbar sein. Das können andere viel besser, sie kaschieren dies dann allerdings als Unruhe. Engel sind immer gerecht, im Recht, echt und ehrlich, aber manchmal etwas unruhig, das können sie mir glauben. Wir können es einfach an keiner Stelle hinnehmen, wenn unser klarer Verstand, unsere sicher strukturierte Welt durch abseitigen oder schrägen Humor verwässert wird. Gerade heute ist dies nicht zu dulden.)*

Mit absoluter Begeisterung, einem tiefen Leuchten in den Augen, schildert das Gegenüber intelligent und umfassend präzise, warum er sich die Gespräche von Truffaut und Hitchcock ausgesucht hat. Und tatsächlich lässt sich Herr Nipp für diese zwei Minuten völlig in den Bann schlagen und vergisst die Malaisen. Dieses Buch wird er sich besorgen. Wo auch immer, das ist klar. Nach dieser Vorstellung, die ihn völlig mitgenommen hat, muss er selber etwas vortragen. Er hat sich Jasper FFordes Buch „Grau“ ausgesucht. Sein Fazit: Brillantes Stück Literatur mit dem Entwurf einer abstrusen Gegenwelt als Spiegel unserer gesellschaftlichen Erwartungen und Realitäten. Die anwesende Buchhändlerin hat ihm übrigens mit Schalk im Blick offenbart, dass das Werk im Original „Shades of Grey“ heißt, aber gar nichts mit diesem SM-Softporno für frustrierte Frauen, die sich auch gerne einem jungen, dominanten, reichen und natürlich wahnsinnig gut aussehenden Mann sicher so selbstlos unterwerfen würden, zu tun hat. **

Nach diesem weiteren Minuten ist der erste Teil des Spuks vorbei. Zügig zieht sich Herr Nipp auf die im anderen Stockwerk befindliche Feuchträumlichkeit mit Spülkasten und Sitzmöglichkeit zurück, lässt dieses Mal nicht intellektuell die Hosen herunter und muss entdecken, dass sich am rechten Knie tatsächlich ein kleiner Splitter festgesetzt hat, es mag auch ein kleiner Dorn sein. Das Jucken lässt mit dem Entfernen durch die langen Fingernägel fast abrupt nach.

Unten bei den anderen 13 angekommen, füllt er sich ein Glas mit Rotwein, rein biologischer Anbau, er wartet darauf, dass eine nächste Runde beginnt, ein anderer für den Vortrag frei wird. Jetzt erfährt er etwas über die ganz persönliche Perspektive einer jungen Leserin auf den eher schon klassischen Roman „Das Bildnis des Dorian Grey“ *** Mag auch sein, dass der Protagonist , der sich selbst zum Antagonisten wird, Dorian Gray heißt, das tut aber hier nichts zur Sache. Schon hat er wieder diese eigentümliche Geschichte eines Portraits vor Augen, welches sich mit jeder Untat des Portraitierten verändert und diesem so ermöglicht, egal was er macht ewig jung zu bleiben. Das Thema der ewigen Jugend scheint so gesehen nicht nur eines der heutigen Zeit zu sein. Ja, auch dieses Buch muss er unbedingt lesen, zum dritten Mal, jetzt nach Jahren wieder. Diese beiden Bücher und natürlich die Reise des Elefanten von Jose´Saramago.****

Dieses Mal sitzt er mit zwei anderen auf dem Sofa, einer hört nur zu, ist gar kein Leser, sondern will sich aus dem Gespräch einfach nur Anregungen holen. Auch das geht also. Wenn folglich von den 14 Beteiligten nur 11 vortragen und 3 zuhören, so muss man tatsächlich von ungefähr oder rund 14 Lesern sprechen, denn die 3 zuletzt Genannten sind noch nicht, vielleicht aber bald Leser. Und dieses „vielleicht“ macht ein genaues Zählen fast unmöglich, genau deshalb musste der Schreibende auf dieser Seite des Bildschirms oder der gedruckten Seite rein spekulativ vorgehen.*****

Insgesamt 16 Bücher werden vorgestellt, denn einige Leute haben mehr als ein Lieblingsbuch und wer weiß, ob es eine solche Veranstaltung noch einmal geben wird. Und jetzt weiß er schon, dass es enden wird wie er von einem Speeddating hörte. Mit der Hälfte der Präsentierten wird er im Bett landen, und wieder juckt es ihn.

Nach anderthalb Stunden geht es nach Hause oder in ein nahe gelegenes Atelier um dort noch weiter zu reden. Herr Nipp lässt die anderen sich selbst und die Idee feiern, er selbst wird mit einem Elefanten zu Bett gehen.

*Die versprochenen Fußnoten werden kommen, dabei bleibe ich. Wer kann mir denn noch mal erklären, wie das geht?

**Ich möchte aber auf keinen Fall ein frauenfeindliches Werk anzweifeln oder gar angreifen, welches von einer Frau höchstselbst verfasst wurde. Nein da sollte man ganz integer sein. Vor allem jedoch dann, wenn es unglaublichen Erfolg hat. Man merke sich den Gemeinplatz: Erfolg hat immer Recht!

***Der viel zu offensichtliche Zufall einer Häufung von Titeln mit dem Wort Grey ist natürlich wirklich der Realität geschuldet. Vielleicht auch ein wenig, um den Spannungsbogen aufrecht erhalten.

****Auch Elefanten sind grau.

*****Entschuldigen Sie bitte, dass aus dem gerade mal anderthalbseitigen Entwurf nun schon wieder ein Wortgetöse geworden ist, bei dem ich mich mal wieder selbst viel zu gerne und natürlich ekelhaft selbstverliebt schreiben sehe. Wenn einem gute Worte oder Inhalte fehlen, dann muss man das Wenige wenigstens in die Länge ziehen und dem Leser vorgaukeln, man hätte etwas zu sagen.

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