Stehbiertischphilosophen

Sie stehen zusammen mitten im Ausstellungsraum, haben sich einen sehr dekorativen Stehbiertisch hinzugezogen, der sonst normalerweise als Ständer für Prospekte und Zeitungen dient. Da liegt normalerweise diese wahnsinnig innovative Kunstzeitung, irgendwelche Veranstaltungskalender aus der näheren Umgebung. Manchmal finden sich dort sogar Freikarten für das Theater in der nächsten Großstadt, die allerdings dann meist keiner haben will, weil es zu Hause einfach interessanter ist. Oder Einladungskarten zu Ausstellungen aushäusig.

Der Abend ist weit fortgeschritten und unbeobachtet wie unbeachtet haben die meisten Expositionsbesucher seit einigen Stunden das Weite gesucht. Solche Veranstaltungen werden normalerweise als gesellschaftliches Muss betrachtet, da hat der gebildete Bildungsbürger, der Politiker und natürlich auch ein Fabrikant zu erscheinen, zu zeigen, dass man da ist, was und wer. Dann werden die neuesten Garderoben oder zumindest Krawatten und selten auch Fliegen ausgeführt.

Lediglich mit einem der beiden Mitstehenden ist unser Protagonist lose befreundet. Der Andere ist ihm durchaus, allerdings nicht näher bekannt. Genaues wissen die drei übereinander allerdings nicht. Die zwei sind rund zwanzig Jahre jünger, was Herrn Nipp allerdings ganz offensichtlich nicht stört. Er hat sich in der letzten Zeit daran gewöhnt, mit sehr unterschiedlichen Menschen sehr verschiedenen Alters etwas sehr Schönes zusammen zu machen. Es gibt kein Normal. Da sind Altersunterschiede von insgesamt 50 Jahren keine Seltenheit. Ja, sie betrachten diese Form des Zusammenlebens als Privileg, wenn junge Leute um die Zwanzig mit den sogenannten Alten um die 40, 50 oder gar 70 zusammensitzen, zusammen sprechen, sich manchmal sogar Gedichte vortragen und ihre Lieblingsmusik auflegen. Auf Augenhöhe versteht sich. Wir wollen allerdings jetzt keine Sozialidylle und billige Generationenromantik aufkommen lassen, nein, das funktioniert nicht immer und mit Sicherheit nicht überall. Aber es gibt Orte, da muss das einfach so gehen. In der Kunst lernen nicht nur die Jungen, wer bis ins hohe Alter weiter machen will, der muss stets am Puls der Zeit sein. Sonst verliert man sich dekorativen Belanglosigkeiten. Plötzlich entgleitet dann die durchaus einmal ambitionierte Kunst zur hübschen Pittoreske.

Ganz entspannt tauschen sie ihre Meinungen, keiner hat etwas zu gewinnen oder verlieren. Ja, es wird zuweilen schon mal etwas lauter, aber das kann man nicht übel nehmen, weil im Nachbaratelier gerade einer die musik aufgedreht hat, das Lieblingslied muss die Ohren einfach zum Explodieren bringen. Jetzt gerade vielleicht irgendwas von Nick Cave. Inzwischen sind sie über die Philosophie mit intensivem Vergleich von Schiller und Kant zur allgemeinen und speziellen Physik gekommen. Kein Wunder, der Herrn Nipp nicht befreundete Mensch hat beide Fächer studiert, im letzten gar promoviert. Nicht ganz ohne Stolz mit summa cum laude.

Nipps sozialem Imperativ, „Im Wissen darum, wie weit du gehen kannst, teste aus, in welcher Weise das Gegenüber mit- und hinnehmbar ist.“, kann der Doktor nicht zustimmen. Er hält den für unmenschlich, und versucht gar eine irrationale Beweisführung, indem er Weizenbaums Thesen über die Computermacht mit einfließen lässt, die allerdings keiner so recht nachvollziehen will oder kann. Möglichkeiten der ungetrübten Informationsaufnahme haben sich inzwischen leicht eingetrübt. Der Andere sorgt nämlich dafür, dass die Kontrahenten bei ihrem scheinintellektuellen Pingpongspiel bleiben. Er hat sich selten so köstlich auf Kosten anderer amüsiert und dabei muss er sich fast krampfhaft am etwas wackligen Tisch festhalten. Inzwischen hat sich eine erkleckliche Batterie an geleerten Weinflaschen versammelt und auch die Augen spielen Pingpong, die Blicke können nicht immer gehalten werden, sondern gleiten zuweilen ins leichte Schielen ab.

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