wummern

Man mag darüber in gewisser Weise noch lächeln können, dachte er, als die Tür geschlossen war. Seltsamer Weise gehörte Herr Nipp zu den Menschen, die das Außergewöhnliche am Menschengeschlecht anziehen, wie ein Magnet den Eisenschrott auf dem Umladeplatz der Autoverwertung. Einer seiner Freunde hatte es in letzter Zeit irgendwann auf den Punkt gebracht: „Verrückte Hühner.“ Damit war allerdings nicht Herr Nipp gemeint, sondern all die Leute, die mit am Tisch saßen und zum wiederholten Male wirr durcheinander gackerten. Vor allem ein Hahn tat sich dabei hervor, als wenn er zum Weckruf auf dem Misthaufen krähen würde. Nein, es ging nicht nur um Frauen, wie der vorurteilsbeladene Leser vielleicht vermuten könnte. Auch Männer schaffen es immer wieder, sich wie Insassen eines großen Hühnerstalls zu benehmen, sich dabei sogar wohl zu fühlen, wenn sie selbstverliebt völlig sinnfrei aber großspurig gackern.

 

Während sich dabei die Männer eher gockelhaft in Szene setzen, bezeichnen sich die Frauen dann nicht als  nur sensibel, sondern als besonders sensitiv und geben dies in Wortsalven von sich, die eher an das Einschlagsmuster von Maschinengewehren erinnern. Bei hohem Ton, der sich ins Schrille steigern kann. Und die normale Welt reicht auch nicht aus, wenn Erklärungsmuster für die tieferliegenden Schichten dieses Verhaltens gefunden werden wollen. Überhaupt will diese hier anwesende Gesellschaft gerne Möglichkeiten finden, alles zu erklären. Sie leben in einer Welt, die alles erschließen möchte. Alles muss transzendental sein, alles mit höherer Macht versehen.

 

Alle Versammelten finden mit Sicherheit etwas, das dahinter liegt. Ein allmächtiges Etwas, das allerdings auf keinen Fall als göttliche Person bezeichnet werden darf, das wäre doch zu profan. „Hach nein, du, das ist doch ein altes Weltbild. Da sind wir schon viel weiter, du. So Institutionen oder Sekten, das brauchen wir nicht, nein du, wir sind da ganz frei“, hatte Herrn Nipp kurz vor dieser hach so spontanen Versammlung einer der Teilnehmer mit gezierter Stimme gesagt. Unterstrichen von dezent choreographierten Bewegungen der Hände.

Hier wurden andere Kräfte thematisiert.  Eher eine Form des allumschließenden Pantheismus, einer grundsätzlich göttlichen Wirkkraft. Ja, im Leben dieser Menschen wirken ganz besondere Kräfte und selbstverständlich muss die Heilung grundsätzlich durch Handauflegung geschehen, zur Not, aber auch nur, wenn nichts anderes mehr hilft, werden starke Medikamente eingesetzt. Dann müssen die Globuli der Homöopatie in höchsten Potenzen ihre Arbeit tun. Also doch eine Sehnsucht nach Glauben? Nein, denn wenn die Lösungen von Problemen erträumt oder in einem höheren Zustand (im Sauerland sagt man dazu Rausch) erfahren werden, dann sind auch bestimmte Orte mit besonderer Energie aufgeladen.

 

„Ich habe es gespürt. Da hat sich mir ein Energiestrom erschlossen, der große Macht hatte.“ Die energetische Sensiblität ist ein Grundmerkmal dieser Gesellschaft. Andere Leute würden solche Orte daran erkennen, dass dort eine Kapelle steht, oder ein prähistorischer Altarhügel aufgeschüttet wurde. Dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass dort schon immer gebetet wurde. (Die armen Esotheriker der Zukunft, welche in hunderten von Jahren die symmetrischen Schlackeberge und Abraumhalden des Saar- und Ruhrgebietes als Kultplätze mit besonderer Ausstrahlung ausmachen werden. „Da waren besondere Energien.“ Wieviel Energie darin tatsächlich steckt oder steckte, können sie ja nicht ahnen. Die Hauptenergieträger des 20. Jahrhunderts, Kohle.)

 

Findet man solche Orte in den Alpen, weiß jeder sofort, dass sie vorchristlichen Ursprungs sind. Übrigens normalerweise an Stellen, die aus dem Tal gut einsehbar sind. Es hatte schon früher einen guten Effekt, an solchen Punkten ein Feuer oder Feuerwerk zu entfachen. Das beeindruckt. Da sprachen dann natürlich die Götter zu den Menschen.

 

An der Art dieser Herrn Nipp umgebenden Menschen erkennt man sofort, was ihnen in ihrer intrinsisch intensiv inszenierten Vergangenheit wahrscheinlich passiert ist. Was müssen diese Kreaturen doch alles erlitten haben, um zur wahren Erleuchtung zu gelangen. Sie haben einen Läuterungsprozess durchlaufen, in dem sie erkannten, dass in ihnen ganz besondere Fähigkeiten stecken, Talente, die mit dem Diesseits wenig zu tun haben. – Letztlich sollte man sich einfach die Lebensgeschichte der großen Gurus zu Gemüte führen und daraus eine eigene Geschichte mit einschneidenden Erlebnissen zimmern. –  Aber darüber äußern sie sich nur hinter vorgehaltener Hand, erst dann, wenn die erfahren haben, dass tatsächlich irgendetwas Besonderes in ihrem Schicksal liegen muss – und dieses Besondere steckt einfach immer hierin.

Natürlich sind sich diese Menschen ihrer inneren Schönheit völlig bewusst. Sie sind künstlerisch interessiert und malen oder töpfern. „Nein, ich bin autodidaktisch an die Kunst gekommen, habe aber sehr viele Erfahrungskurse in der Toskana und der Provence gemacht. Das will alles aus mir heraus, da gibt es kein Halten.“ Sehr beliebt auch: „Ich beschäftige mit freien Formen und ganz wichtig ist mir dabei der Einsatz von Gold. Da steckt eine gaanz besondere Energie drin, die kann kein anderes Material haben.“ (Da derzeit die Goldpreise allerdings etwas hoch sind, wird von gleichen Leuten auch gerne Schlagmetall verwendet, das ganz ähnlich aussieht, allerdings wesentlich billiger ist.)

 

Auch an diesem Abend, er wollte eigentlich nur aus Höflichkeit an einem Versammlungsabend teilnehmen, passierte es. Nur an einem Tisch war ein Platz frei geblieben. Sie waren schnell ins Gespräch gekommen, nach seinem Gefühl vielleicht etwas zu schnell. Die gut gekleideten Herr- und Damschaften auf der anderen Seite des schlichten Holztisches hatten nach der Höflichkeitsfloskel direkt ein tiefschürfendes Gespräch begonnen. Über das Besondere des Augenblicks an diesem Ort. Die nachhaltige Bedeutung des Erlebens und bewussten Durchlebens wurde beschworen. „Sehen sie nur, dass gerade hier die stolzen und doch so feinen Rosen eine solche Reinheit und Schönheit, eine solche Pracht entwickeln können.“ Herr Nipp hatte gerade zu einer Antwort ansetzen wollen, in der er auf die völlig überzüchtete Sorte, den übermäßigen Einsatz von Dünger und Pestiziden verwiesen hätte, als die Frau schon viel weiter und inniger in das Thema eingedrungen war. „…nur an ganz [besonders gedehntes a] außergewöhnlichen [besondere Höhung auf dem ö] Orten können Rosen so [siehe a] werden. Sie erspüren ganz [siehe oben] sensibel die positiven Schwingungen.“

 

Die nächste halbe Stunde erduldete Herr Nipp brav den spirituellen Monolog, er hatte keine andere Wahl, es wäre den Gastgebern gegenüber unhöflich gewesen, frühzeitig aufzustehen. Die auserlesenen Speisen wollten vertilgt, der schmackhafte Rotwein aus biologischem Anbau getrunken werden. Plötzlich allerdings zogen fette, dunkle Regenwolken auf und entluden sich ohne Rückhalt, ohne jegliche Rücksicht auf bewusstseinserweiternde Gesprächsinhalte. Fluchtartig verließen alle Gäste den Außenbereich, strömten nach innen ins Sichere und Warme. Herr Nipp erkannte die plötzliche Gelegenheit, seine Chance auf Flucht, wurde etwas langsamer, verließ den Ort und suchte sein Auto auf. Der Treibende Rhythmus der Musik aus den Lautsprechern ließ alles zu, nur keine Esoterik.

 

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