Herr Nipp

Alles in der Stadt hat sich über die letzten Jahrzehnte gewandelt. Echte Einzelhändler gibt es kaum noch, fast überall dominieren die üblichen Kettengeschäfte. Filialwesen wandeln das Bild. Kleine Geschäftsräume stehen leer, es braucht eckige Blöcke über mehrere Etagen, also wird Altes entfernt. Ein gutes Geschäft für Abrissfirmen. Alles Neue ist Weiß und Anthrazit. Anonym. Die Kneipen sind verschwunden, auch weil sich die Menschen auf Systemgastronomie eingestellt haben. Gibt es eigentlich noch Menschen in der Stadt? Herr Nipp sieht nur wandelnde Steppdecken.

Wieviele Stunden, Tage und Monate er wohl mit warten verbracht hat? Besser nicht drüber nachdenken, denkt Herr Nipp und da kommt ja auch schon das Auto mit der netten Frau, die ihn mitnehmen wird.

Über Jahrzehnte galten in den Lebenswissenschaften jene Wissenschaftler als hoffnungslos veraltet, die sich mit den Arten auskennen, die anhand der kleinen Unterschiede unterscheiden und benennen können, liest Herr Nipp. Dagegen galten die Genetiker, die Evolutionsforscher und Biochemiker als hipp. Jetzt verschwinden die Arten, wohl auch, weil kaum einer sie kennt und eines wird immer deutlicher: Wir können nur schützen, was wir kennen, nur bewahren, was noch da ist. Und ganz plötzlich ist die Taxonomie wieder ganz wichtig. Und glücklicherweise gibt es Bücher mit genauen Beschreibungen.

Sie stehen auf dem Flur, unterhalten sich in einer fremden Sprache. Abgehackte Wörter oder sind es nur Silben? Sie schaut ihn eindringlich an, er verzweifelt zurück. Er weiß, was er getan hat, weiß, dass er es nicht hätte tun dürfen. Letztlich war es Vertrauensbruch. Aber davon kann Herr Nipp nichts wissen, wie auch, er kann die Fragen der Frau weder verstehen, noch die niedergeschlagenen Antworten des Mannes. Nur eines weiß er ganz genau, jetzt ist es wohl besser, sich herumzudrehen und zu tun, als habe er noch nicht einmal etwas gesehen.

Da sitzen sie spät abends zusammen, nicht alle gucken so, wie sie vor Stunden noch geguckt haben mögen. Aber das weiß man nicht genau. Um es genau zu sagen oder zumindest angemessen darzustellen: Alle haben eine gewisse, sogar eine gefährliche Dosis einer Droge zu sich genommen, die seit Jahrhunderten offensichtlich in dieser Gesellschaft etabliert und toleriert ist. Eine harte Droge, eine sogar tödliche Droge, die nicht nur wahrnehmungsverändernd wirkt, sondern die gesamte Persönlichkeit umkrempeln kann. Eine Droge, die Vergiftungserscheinungen zeitigt, die lebenslange Folgen haben. Eine Droge, die auf zellularer Ebene Schäden, auch im Gehirn, anrichtet.
Die hier anwesenden Menschen sitzen in einem Zelt auf einem Volksfest und schütten sich seit Stunden mit Bier und Schnaps zu. Am Ende werden wahrscheinlich einige von ihnen unter den schweren Vergiftungserscheinungen leiden, sich eventuell übergeben und am nächsten Tag wird es ihnen schlecht gehen. Sie werden sich schwören, nie wieder zu trinken und noch am gleichen Tag ihrer Sucht nach Rausch nachgehen und einen zweiten und dritten Abend in diesem Zelt sitzen, sich besaufen und wieder kotzen und einen Kater haben. Das volkstümliche Phänomen wird auch Schützenfest genannt. Ja – und dabei werden sie natürlich thematisieren, dass alle Hanfprodutke Einstiegsdrogen sind.