Herr Nipp

Du kannst tausend Dinge richtig machen, kein Fehler schleicht sich ein und das heißt, du hast wirklich alles richtig gemacht. Niemand wird es bemerken, aber wehe, wehe, wehe du machst eines falch.

Dieses quietschende Öffnen einer Thermosflasche weckt ihn aus einer Trance. Er hatte einige Minuten wohl, es mögen auch nur wenige Sekunden gewesen sein, wer kann das schon wissen, wenn er in solcher Situation gebunden ist, auf eine Stelle der Wand geschaut und sie sich eingeprägt, oder war er vielleicht auch nur einem Tagtraum nachgegangen, der ihn an andere Gefilde seines Bewusstsein geführt hatte? Ein kleines Stück Wand mit einem nicht dorthin gehörenden Fleck, wie er jetzt erkennt. Ein roter Fleck, wie aus einer Sprühdose, die versehentlich gedrückt wurde, habe sie vorher zu schütteln. Eine Fehlstelle. Er blickt zur Seite und plötzlich sind alle Gedanken, die er bisher hatte, verschwunden, eine Fehlstelle.

Er hat den Blick der Anderen, dort gegenüber im Raum, in maximal möglicher Entfernung, aufgenommen, aufgefangen und für sich angenommen. Diese fremden Augen lösen etwas in ihm aus, ein Erinnern, ein Aufstöbern entfernter Erlebnisse. Er kennt sie nicht, kann sie nicht kennen, nur ihre Augen, ihre Fenster zur Seele scheinen ihm aus der Zeit gefallene Feststellungen einer vielleicht erlebten Geschichte.

Er ist kurz eben zu den Nachbarn herüber gegangen. Das war früher nicht so einfach möglich. In seiner Kindheit wurde das Grundstück durch eine riesige Holzpforte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgeschirmt. Es war immer eine Mutprobe damals, wenn er versuchter darüber zu klettern, denn sie war weit höher als 2 Meter. Gefühlt zumindest, denkt er rückblickend. Kürzlich auf einem Foto aus den Siebziger Jahren musste er feststellen, dass es eher 1 Meter 50 waren. Damals war er eben kleiner, sagt sich Herr Nipp. Mit der Körpergrße ändert sich auch die Wahrnehmung der Welt. Was einem als Kind eine Welt ist, das ist dem Erwachsenen ein beengter Raum. Jetzt also ist er über das kleine Pförtchen gestiegen und steht im nachbarlichen Garten. „Schön, dass du rein kommst, kannst du mir mal eben helfen?“ , fragt eine ältere Dame. „Deshalb bin ich da, natürlich helfe ich Ihnen gerne.“ Daran zumindest hat sich nichts geändert. Während er geduzt wird, siezt er auch weiterhin.

Was damit gemeint ist hätte er nicht wissen müssen, hätte er nur aufzeigen sollen, wie es zu werten sei. Aber wer könnte schon sagen, wie was zu werten sei, wenn das Was unbekannt bliebe.