Herr Nipp

„Weißt du noch damals…“, so beginnen viele Gespräche, die sich verklärend mit der Vergangheit auseinandersetzen möchten. Herr Nipp versucht, sich sein Leben nicht schön zu reden, er bemüht sich vielmehr, die eigene Geschichte möglich nüchtern zu betrachten und einzuordnen. Die guten wie schlechten Momente und Geschehnisse, Glück (davon hatte er eigentlich immer sehr viel) und Trauma (so es letzteres überhaupt ernsthaft gab), Seligkeit und Drama, Alltagslangeweile (sehr viel) und Abenteuer (rare und daher kostbare Momtente). Immer allerdings scheint bei ihm im Mittelpunkt die Frage zu stehen, ob es damals wirklich besser als jetzt war. Und immer schon kommt er zu dem einen Schluss: Nein.

Das Wissen um die Grenzen der eigenen Kapazität hilft, den eigenen Platz zu finden. Das Wissen um die Grenzen der anderen aber gibt Macht.

Während er sich auf seinem Gerät mit relativ geringen Gewichten quält, die er sich seinem physischen Vermögen entsprechend aufgelegt hat, kommt ein Schrank von einem Mann die Treppe herauf, blickt siegesgewiss um sich. Der ist sich seiner Sache bewusst und strahlt das Lächeln eines etwas tumben Helden über alle vier Backen. Stattliches Kampfgewicht, Herr Nipp schätzt, dass dieser Fitnessstudioadonis gut 150 kg auf die Waage bringt. Beste Muskelmasse. Kaum Fett. Über Jahre hinweg muss er diesen Körper trainiert haben, jeder Muskel ist auf das Feinste definiert. Wieviel eiweißpulver mag der wohl schon in sich hereingestopft haben? Bei jeder Bewegung ergibt sich ein neues Lichtschattenspiel auf der gespannten und gebräunten Haut. Anerkennend nickt Herr Nipp, auch wenn er selbst niemals so aussehen möchte. Damit hat er wirklich keine Probleme, anderen Menschen ihre Leistung, ihr Vermögen oder ihr Aussehen neidlos anzuerkennen. Der Ankömmling setzt sich in die Nähe auf den Sitz eines der vielen martialischen Geräte und stellt die höchste Stufe ein. Alles andere wäre für diesen Mann der reinste Gesichtsverlust. Was auch sonst, denkt Herr Nipp. Da wäre bei ihm selbst bei 25 kg Schluss. Aber wer weiß, was nicht ist, kann ja noch werden. Aber der Schwerathlet hat nicht besonders gut aufgepasst und klemmt sich den kleinen Finger. Aufschrei, alle gucken. „Mama!“

Nicht die Natur der Dinge bestimmt die Echtheit, sondern der Glaube an sie.

Auf diesem alten, schwarzen Ledersessel war er vor einer halben Stunde eingenickt, einfach so, ohne jeglichen Grund. Er hatte sich kurz hingesetzt, um Zeitung zu lesen und hatte nicht einmal den ersten Artikel ganz geschafft. Nun ist das Schlafen auf einem Sessel nicht unbedingt das beste, vor allem, wenn selbiger keine Kopfstütze hat. Wie gesagt, seine Sessel sind, älter als er selbst, aus den sechziger Jahren, sehr stylisch zwar, aber eben nicht als Schlafsessel gedacht. Auf der Couch lässt es sich vielleicht besser liegen, wenn auch nicht gerade als Dauerzustand. Das kennt Herr Nipp Wohnzimmermöbel bei Freunden, die darauf abgestimmt sind, den ganzen Seriensonntag darauf zu verbringen, vielleicht sogar das gesamte Serienwochenende von Freitag bis Sonntag Nacht. Ihm aber konnte nur der Kopf auf die Brust fallen und normalerweise wacht man dann mit irgendwelchen Verspannungen zumindest, meist auch Schmerzen, auf. Heute aber nicht. Die Sonne scheint ihm auf den Nacken und streichelt angenehm warm. Frühlingssonne, denkt er noch im Aufwachen. Jetzt kann es losgehen. Er blickt kurz auf die Zeitung und schläft schon wieder.