Sicherheitszettel

Als er ankommt, stehen die anderen schon dort. Sie warten, nicht auf ihn, auf die richtige Zeit. Herzliche Umarmungen wechseln mit Handschlägen und tiefem in die Augen Blicken. Einige Augen sind gerötet, vom Weinen, vielleicht auch von der letzten Nacht, die nicht zu Ende ging. Dann setzt sich die Gruppe in Bewegung, in Richtung Wald, Hauptweg. Bis zum eigentlichen Treffpunkt, dort werden sie alle abgeholt. Eine freundliche Frau mit offenem Blick. Eine Frau, der anzusehen ist, dass sie dies hier schon häufig gemacht hat. Trauernde Menschen begleiten, begleiten zu einer Bestattung im Friedwald. Herr Nipp hat einen Kloß im Hals, er weiß noch nicht, was passieren wird, wie er damit umgehen kann.
Irgendwo im Wald steht ein Rund aus Bänken, dort wartet die Bestatterin mit Mitarbeitern. Die Sitzgelegenheiten sind mit Schaumstoffkissen bereitet. Herr Nipp bittet die anderen, sich hinzusetzen und sagt einige Worte, die einstimmen sollen, ruhig, aber nicht traurig, vielleicht etwas zu sentimental, ja. Dann „Into my arms“ von Nick Cave, später ein weiteres Stück dieses Sängers auf dem Weg zur Grabstelle neben einer Eiche. Die Trauernden wechseln sich ab, die Urne zu tragen, so hat jeder die Möglichkeit, sich ganz persönlich zu verabschieden. Die Schritte durch das Laub sind langsam, als wolle keiner loslassen. Mal rollen Tränen, mal wird in Erinnerung gelächelt. Letztlich weiß jeder, dass er um sich selbst weint, um die Gewissheit des eigenen Vergehens und das Wissen, dass der andere jetzt nicht mehr da ist, nur in Erinnerungen. Sie gruppieren sich um die mit Fichtenzweigen ausgelegte Stelle. Dieses Erdloch, welches einer der Söhne ausgehoben hatte. Die Urne ist inzwischen abgestellt, die Musik geht zu Ende. Und dann fängt Herr Nipp an zu sprechen, schaut den einzelnen ins Gesicht, die Blicke treffen sich für Sekunden und statt einer rührseligen Geschichte, kommen ganz entgegen dem Text, den er sich zurechtgelegt hatte, lustige oder nachdenkliche Anekdoten zum Vorschein. Und tatsächlich lächeln die Trauernden. Der Kloß im Hals ist weg. Wieder Musik, von Anne May Kantereit, von Element of Crime. Auf dem Rückweg zum Treffpunkt klingt aus dem Wald eine irisches Traditional, auf der Querflöte gespielt von einem der Gäste. Ein langsamer Rückweg. Hinterher trinken sie noch einen Wein, einen Sekt. Die sprechen über ihre Erlebnisse mit dem Verstorbenen und jeder weiß, auf welche Weise geliebt wurde, als Freund, als Kind, als Frau.
Und in der Gesäßtasche knistert Herr Nipps Sicherheitszettel, den er verfasst hatte. Für den Fall, dass er nicht weiter kommt. Er hat ihn nicht gebraucht, es wäre ganz anders gewesen. Und jetzt kann auch er weinen. Endlich.

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