Langes Gesicht

Früher, das ist schon Jahrzehnte her, als er noch klein war und die Mutter wohl als relativ jung oder mittelalt bezeichnet werden konnte, hatte diese gerne bei Enttäuschungen zu ihm gesagt: “Mach nicht so ein langes Gesicht, das steht den Pferden besser.“ Sie war immer der Meinung gewesen, dass Misserfolge mit einem selbst zu tun haben, dass man nicht vorbereitet oder nicht genug zumindest, war, dass die Umstände unglücklich waren oder jemand einfach unfair gehandelt habe. Alles Umstände, die weitgehend nicht zu beeinflussen waren. Er hatte zum Beispiel in Biologie immer nur eine zwei bekommen, weil der Lehrer, nebenbei bemerkt schwerster Levelalkoholiker mit völlig überzogenen Wutausbrüchen, die sich durch eine beginnende Stille und dann unkontrolliertes Geschrei Bahn brachen, der Meinung war, dass die vielen Meldungen letztlich den Unterricht stören würden und es für die Mitschüler nicht hilfreich sei, wenn jemand so viel wisse. Damals war er mit seiner Mutter beim Elternsprechtag gewesen, es waren die beginnenden achtziger Jahre, und dieser, sagen wie einmal Mensch hatte der Erziehungsberechtigten klar gemacht, der kleine Herr Nipp werde niemals eine Eins in Biologie erhalten, ganz einfach weil es nicht der Erwartungshaltung des Lehrers, dass ein Kind Freude an diesem Fach haben könne und sich vor dem Unterricht über alles in Büchern informiere. Außerdem hielt der es für eine Frechheit, dass dieser Knabe, wie er ihn bezeichnete, auch noch die Frechheit habe, ihn, den allwissenden Lehrer, der nunmal morgens Recht hat, zu verbessern. Noch aus dem Raum tretend hatte seine Mutter damals etwas gesagt, was Herr Nipp niemals wieder von ihr gehört hatte, und zwar so, dass dieser Lehrer mit seiner Doornkat-Fahne es sehr genau hören musste: “So ein Arschloch. Keine Sorge, mach kein langes Gesicht, das wird sich ändern.“ Und tatsächlich hatte es sich geändert. Auf dem nächsten Zeugnis hatte er eine andere Note und die Klasse einen anderen Lehrer, der intelligent, durchdrungen von Wissen und Wollen war und ihn in seiner Leidenschaft für Natur unterstützt hat. Erst Jahre später hat ihm seine Mutter zugegeben, Beschwerde wegen Alkoholkonsums während der Dienstzeit und ungebührlichen Verhaltens gegenüber ihr und Herrn Nipp eingelegt zu haben. So unabwendbar waren letztlich die Umstände dann doch wohl nicht.

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