Früh morgens war er aufgestanden, viertel vor sechs. Das war ihm schon selbst wie senile Bettflucht vorgekommen. Aber was soll er denn schon tun, wenn ihn das Bett doch einfach so ausspuckt. Und ganz ehrlich, alleine darin herumliegen ist nicht so sein Ding, mag es auch noch so bequem sein. Allein schon das Wissen, was er in dieser Zeit alles machen könnte, oder die Vermutung, was passieren würde, stünde er denn nun endlich auf. Also heraushüpfen, auf einem Bein, weil er mal wieder ganz leicht die Balance verloren hat ins Badezimmer gehüpft, ausgezogen und geduscht. Nicht heiß, erst lauwarm, dann noch einmal mit dem kalten Strahl über den gesamten Körper. Das ist zwar nicht schön, aber macht mit absoluter Sicherheit wesentlich wacher als eine ganze Kanne Kaffee. Nein, heute nicht, er legt seine Kleidung zur Seite. Jetzt zu duschen wäre völlige Verschwendung, Ritual hin oder her. Die Sportsachen also angezogen, ungeduscht, schnappt er sich das Mobiltelefon und macht sich auf zum Dauerlauf. Durch den Wald scheint ihm wichtig und ebenso richtig, den Wechsel der Temperaturen dort wahrhaftig hautnah zu erleben. Leben spüren am eigenen Leib, im eigenen Körper. Im Fitnessstudio, das er natürlich auch öfters besucht, herrschen immer die gleichen Temperaturen, die gleiche Luftfeuchtigkeit, die gleichen Gerüche. Das ist öde, das hat ihn schon immer an Sportstätten gestört. Man kann sie vorher schon riechen. Egal ob Studio, Sporthalle oder Hallenbad. Außerdem hält er es manchmal für sehr anstrengend, weil manche Sportler dort offenbar glauben, ihnen werde größerer Respekt gezollt, wenn sie die Gewichte unter Stöhnen heben und dann laut nach unten knallen lassen. Zusammengeschnitten ergäbe sich daraus vielleicht sogar ein sehr cooler Beat, aber Herr Nipp hat einfach keine Ahnung von Sampling. Ein treibender Sound für Fitnessstudios. Huh.
Zunächst läuft er mit sehr gemäßigtem Tempo über den dem Wald nahe gelegenen Friedhof, über den hier schon häufiger berichtet wurde. Da dort inzwischen kaum noch Gräber zu sehen sind, wirkt er eher wie ein Park. Im vergangenen Jahr wurden dort außerdem Blumenbeete installiert, so dass dieser Eindruck noch verstärkt wird. Witzigerweise oder besser seltsamerweise hat die Gartenbaugestalterin ganz eigenwillig auf diesem alten Gräberfeld, das vor allem Katholiken, aber auch einige Protestanten und Orthodoxen, eben Christen eine letzte Ruhestätte gibt, an mehreren Stellen Sichelmondfelder durch das Setzen von Bruchsteinen erzeugt. Eigentlich ein Wunder, dass sich die christlichen Gemeinden noch nicht beschwert haben, denn ein Kreuz ist nicht zu sehen.
Über eine kleine Holzbrücke, die wohl besser als Steg bezeichnet werden sollte, läuft er schon etwas zügiger in den Wald. Alles menschenleer. Auf der gesamten Strecke wird ihm erst rückwegs ein alter Mann mit Hund begegnen. Aber er sieht auf seinem Weg immerhin sieben Sikas. Und schon alleine dafür hat es sich gelohnt, die 15 Kilometer früh morgens zu laufen, denkt er, als er wieder vor der eigenen Haustür steht.

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