Frühe

Seit drei Uhr früh sitzt er im Wald. Ein Freund hat ihn eingeladen mitzukommen. Wer macht so etwas schon freiwillig, abgesehen von Bäckern vielleicht mit einem leicht masochistischen Trieb. Aber es soll ja inzwischen Bäckereien in Großstädten geben, die erst um acht oder neun öffnen, damit die Bäcker länger schlafen können. Na gut, er hat sich in einem unbedachten Augenblick darauf eingelassen und irgendwie ist es ja auch ein Abenteuer. Als er noch Kind war, erschien es ihm immer wie ein großes Abenteuer, wenn er mit Geschwistern und Eltern früh morgens um zwei Uhr in den Urlaub fuhr, in die Alpen, verbunden mit der Hoffnung, die Straßen würden leer sein. Vielleicht aber vor allem verbunden mit der Hoffnung, die Kinder würden die halbe Fahrt verschlafen. Das war ihm damals allerdings zu aufregend. Erst wenn es richtig Tag war, wurde er müde. Nicht dass er besonders viel quengelte, aber er konnte schon viele nervige Fragen zu all den Beobachtungen ,die er unentwegt machte, stellen, so dass die Mutter sich irgendwann auf dem Beifahrersitz herumdrehte und sehr eindringlich dazu aufforderte, doch endlich mal ruhig zu sein. Wenn das passierte, wusste er, er hatte es mal wieder übertrieben. Wissensdrang würde er in Zukunft hauptsächlich in Büchern stillen. Und nein, es war nicht gut, die Eltern und insbesondere den zuweilen kolerischen Vater mit Fragen, die er nicht beantworten konnte, zur Weißglut zu bringen. Punkt.
Wie es früher der Weg zum Urlaubsort, ist heute schon allein der Weg zum Ansitz eine große Herausforderung. Es geht durch dichtes Gestrüpp, das offensichtlich seit Jahren nicht freigeschnitten wurde und über Äste, die von den letzten Baumfällungen liegen geblieben sind. Auf den ehemaligen Fichtenflächen, die von Hitzeperioden und Borkenkäfern leergefegt wurden, bleiben alle sperrigen Zweige und Äste liegen, die sind offenbar nicht wirtschaftlich nutzbar. Damals, vor zwei Jahren waren plötzlich alle Bäume tot. Drei Jahre Dürre können einige Arten nicht aushalten. Die Welt hat sich verändert, bestimmte Formen des Kulturwaldes werden in Zukunft nicht mehr funktionieren. Vor sollte darüber nachgedacht werden, ob Monokulturen und in Reihe stehende Baumplantagen noch zukunftsfähig sind. Bestimmte Baumarten werden verschwinden, welche überlebensfähig sind, ist noch nicht geklärt. Übergangszeiten sind schwierig. Vielleicht die größte Herausforderung unserer Gesellschaft, auch wenn es einigen Menschen immer noch nicht bewusst wird. Ja, ich weiß, es ist enervierend, wenn immer wieder darüber berichtet wird, aber wenn immer noch Menschen die letzten Reste der Vegetation auf ihren Grundstücken mit Gift, Essig, Salz, Hochdruckgeräten und Gasbrennern vernichten, dann muss dagegen angeschrieben werden. Wer sich immer noch Scheuklappen aufsetzt, weil das Leben so einfacher erscheint, soll das bitte tun. Wer das nicht lesen möchte, verschließe bitte die Augen vor der Realität, ziehe sich in sein Schneckenhäuschen zurück und lasse sich irgendwann von den Ereignissen der Zukunft überrollen.
Es knackt unter den Füßen und Herrn Nipp kommt es so vor, als wäre er eine Walze, die mit ihrer Lautstärke sämtliche Tiere verschrecken muss. Eigentlich ist die Fläche, auf welcher der Freund ansitzen möchte, kein schöner Anblick, wenn man weiß, dass hier vor drei Jahren noch dicht nebeneinander Bäume standen. Doch tatsächlich ist das Leben neu erwacht, als habe es nur darauf gewartet, dass der Boden endlich mal Licht bekommt. Siebzig Jahre hat er gewartet auf diesen Moment und jetzt sprießen an allen Stellen Kräuter, Farne, erste Birken und Zitterpappeln, sogar Eichen und Buchen sieht Herr Nipp. Da und dort eine Eberesche, ein Faulbaum, Himbeersträucher überall, das allerdings wird er erst differenzieren können, wenn die Sonne aufgegangen ist. Noch herrscht eine diffuse Dunkelheit um sie herum. Neben den herangewehten Samen scheinen die sogenannten Diasporen endlich ihre ihre Chance zu ergreifen. Samen, die seit Jahrzehnten keimfähig, aber ruhend im Boden lagen. Das Sauerland hatte die Fichte mal als Brotbaum, diese Zeit ist nun vorbei. Welch ein Glück. Vielleicht bekommt die Landschaft nun die Chance wieder echte Natur zu entwickeln. Es bleibt abzusehen, ob unsere Gesellschaft schon reif genug dafür ist, dies zuzulassen.
Sie lauschen den letzten Geräuschen der Nacht, auch der weit entfernt sichtbaren Autobahn, die ihr niemals abreißendes Rauschen in die Landschaft schickt. Unsere Landschaft ist dauerhaft penetriert von den Maschinengeräuschen der Menschen, dort ein Auto, dort eine willkürlich in die Landschaft gestreute Fabrik. Hier ein Lastkraftwagen, da ein Motorrad mit überlautem Auspuff, hier eine Klimaanlage, dort ein Generator. Immerhin schaffen wir es, diese Kulisse zu verdrängen, meist jedenfalls. Dazwischen aber ab und zu das Knacken von Holz, das Fiepen von Mäusen, das Grunzen eines Wildschweins, kleine Wesen, die fix über den Boden huschen, von Unterschlupf zu Unterschlupf. Mit der Ahnung des anbrechenden Tages beginnen die Amseln und Singdrosseln ihre Lieder zu singen. „Hört her, da bin ich. Ich bin der beste Sänger.“ Herr Nipp fühlt sich ein wenig an einen Hit der neuen deutschen Welle Anfang der achtziger Jahre erinnert, darin heißt es: „Schaut mich an, ich bin die Schönste! Schaut mich an, ich tanz am Besten!“ Tango 2000 der Band Nichts.
Nach und nach baut sich eine unverwechselbare Klangkulisse auf. Auch die Gerüche verändern sich mit den ersten Sonnenstrahlen, die über die Fläche streicheln. Alles ändert sich, die Kulissenelemente werden plötzlich zu feingliedrigen Teilen, die kompakten Flächen der Nacht verschwinden. Raum entsteht. Es hat sich wirklich für Herrn Nipp gelohnt, so früh aufzustehen. Auch falls sie kein Reh, keinen Hirsch und kein Wildschwein sehen werden. Aber diese Kombination aus optischen, olfaktorischen und akustischen Eindrücken ist ein schönes, ein überwältigendes Erlebnis. Nur die Holzbank, auf der die beiden Freunde seit Stunden sitzen, ist sehr hart.

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