Vorlesung – eine Erinnerung

Als er in den Raum kommt, beachten die Anwesenden ihn mit bewusster Nichtbeachtung. Er wartet, fühlt sich sicher sicher genug, sie auflaufen zu lassen. Früher wäre das vielleicht anders gewesen, in seiner Anfängerunsicherheit hätte er sich genauso sicher irgendwie bemerkbar zu machen versucht und damit dieses Machtspiel qua Automatismus bereits vor Beginn verloren. Früher hätte er sich wahrscheinlich noch geärgert, vorgeblich über die Anderen natürlich, eigentlich jedoch über sich selbst; niemand wird geärgert, er ärgert sich letztlich selbst. Auch das weiß er. Er waretet also ab, steht da vorne wie unbeteiligt, immerhin einige Minuten lang hält er dieses Spiel aus. Irgendwann kehrt schon Ruhe ein. Ja. Irgendwann kehrt tatsächlich Ruhe ein. Er wartet dann noch, bis auch der Letzte sein Murmeln beendet, bis auch die Letzte ihre albernes Kichern ersticken lässt. Das macht die wahre Macht, sie hat Geduld. Sie hält die Situation aus und erst wenn es notwendig wird, im Sinne von notwendig, schreitet sie mit Härte ein. Als er beginnt zu sprechen, ist das so leise, dass niemand es wagt, die eben abgebrochene Unterhaltung mit dem Nachbarn, das nette Schwätzchen mit der Nachbarin fortzuführen, jegliches Flirten über Reihen hinweg kommt zum Erliegen. Er blickt auf seine schlichte Armbanduhr, ein Erbstück seines Lieblingsonkels, der ihm damals, als er noch jung war und naiv, die Liebe für das Wort vermittelt hatte. „Sie haben“, erobern die Worte sanft, freundlich und eindringlich den Raum, „mich gerade fünf Minuten warten lassen.“ Er blickt in den Runde und gefühlt jedem kurz dabei in die Augen. „Sie wissen, dass jeder nur einmal die Chance hat, einien ersten guten Eindruck zu hinterlassen. Meiner von Ihnen ist dementsprechend.“ Er wird nicht laut, seine Stimme bleibt sanft und freundlich und wirkt, kriecht durch die Gehörgänge unter die Hirnhaut. Und jetzt lächelt er ins Auditorium und die Zuhörer sind verblüfft, als er verkündet, dass seine Vorlesung und die verlorene Zeit zusätzlich auch nach hinten gekürzt wird. „Ihnen scheint mein Vortrag so wenig wert zu sein, dass Sie lieber die zentralen Aspekte des Themas selbst herausarbeiten möchten. Die Literatur dazu finden Sie natürlich im Semesterapparat. Haben Sie auch dazu keine Zeit, brauchen Sie zur nächsten Vorlesung erst gar nicht mehr zu erscheinen.“ Die Vorlesung ist inhaltsreich, scharf konturiert und unglaublich unterhaltsam. Irgendwann schaut er wieder auf seine Uhr, die Max Bill entworfen hat. Er geht fünf Minuten früher, wie zuvor angekündigt.
Als er zur nächsten Vorlesung erscheint, ist der Hörsaal voller als zuvor, und die Studierenden verstummen wie auf Knopfdruck.

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