Falsche Stadt


Oder
Laik Wörtschel im Sauerland

Herr Nipp hat sich in den Bus gesetzt,was er zugegebenermaßen nicht oft macht. Normalerweise legt er kürzere Strecken mit dem Rad oder zu Fuß zurück, sogar zum Einkaufen.Zwar ist die nachfolgende Schlepperei lästig, aber dafür hat er dann genügend Zeit, seine ihm so wichtigen Beobachtungen zu machen, die er später akribisch notiert. Auffälligkeiten, Besonderheiten und Veränderungen. Das schult das Sehen. Manchmal geht es dann vielleicht nur um die eine kleine Blume, die er an dieser Stelle oder auf jenem Beet noch nicht gesehen hatte. Manchmal sind seine Entdeckungen aber auch wirklich eingreifender Natur. Das war letztlich so gewesen, als ein Haus abgerissen wurde, bei dem er sich seit Jahren gefragt hatte, wer dort wohl wohne und wie es wäre, dort zu wohnen. Altes Gemäuer aus dem neunzehnten Jahrhundert. Leider hatte er nie um Einlass gebeten oder gefragt, wem das Haus denn wohl gehöre. Längere Strecken legt er meist in seinem klapprigen Kastenwagen zurück, Der aussieht, als sei er seit Jahren in keiner Waschanlage mehr gewesen, was auch stimmt. Er liebt es, in seinem liebevoll Trecker oder aber Bullibulli genannten Gefährt über Land zu fahren, irgendwo geplant oder für ihn selbst völlig überraschend anzuhalten und dort spazieren zu gehen oder einen gerade entdeckten Trödelmarkt in einer versteckt liegenden Garage zu besuchen.
Heute jedenfalls hat er sich in einen Bus gesetzt. Er hat extra seine beste Maske herausgesucht, die dunkelgraue, die eben noch frisch gewaschen über der Leine hing. Die Entdeckung, dass man durch feuchten Stoff schlecht atmen kann, haben sicherlich schon tausende internierter Menschen in amerikanischen Gefangenenlagern gemacht. Er es hilft nichts, da muss er jetzt durch und fühlt sich für die Zukunft gut vorbereitet, sollte er einmal dem Waterboarding unterzogen werden. Und letztlich hat er ja auch die Hoffnung, dass während der Busfahrt die Maske nachtrocknet. Es gibt tatsächlich einen Grund für seine Wahl des Transportmittels. Ein überregional bekannter Künstler hat ein neues Ausstellungskonzept für seine Werke entwickelt. Werke übrigens, die es rein virtuell gibt. Nicht einmal irgendwo digital abrufbar. Laik Wörtschel, so der Name, ist mal wieder ein Stück radikaler geworden. Nachdem er in den Zehner Jahren des neuen Jahrtausends seine zeichnerischen Ideen mit Hilfe von flüssigem Asphalt auf den Straßen rund um den Möhnesee realisierte und dort aufregende riesige Zeichnungen schuf, die sich teilweise über mehrere Kilometer ziehen konnten, widmete er sich immer wieder anderen Medien. Er hat Performances gemacht, die sich über mehrere Tage hinzogen und sich mit dem Thema Langeweile beschäftigten. Sogar in die Äcker der Soester Börde, die er bekanntlich nicht nur als subventionierte Wirtschaftsflächen betrachtet, sondern als kulturelle Archive, die über die Jahrtausende historische Relikte bewahren, wurden von ihm Kunstwerke aus Kunststoff eingepflügt. Nicht als Versehen oder Nachlässigkeit, wie es Bauern ja schon mal passiert, sondern als bewusster Akt einer selbstbestimmten Selbstbehauptung. Allerdings hatte das bei Kunstenthusiasten, der gemeinhin von ihm selbst als Kulturplünderer bezeichnet werden, dafür gesorgt, dass diese Flächen von ihnen systematisch abgesucht wurden, dass sämtliche zu findenden Kunstwerke mitgenommen wurden, als seien Äcker Selbstbedienungsläden. Viele dieser Arbeiten tauchten dann in Galerien und auf Auktionen zu unverschämten Preisen auf. Dieses Gebaren hatte allerdings zum augenblicklichen Abbruch seiner Kunstaktion geführt, weil Laik Wörtschel sich strikt gegen die kommerzielle Nutzung und Nutzbarkeit seiner eigenen Kunst wendet. Ein Teil von etwas kann seiner Meinung nach nicht zum Ganzen werden, nur weil es in sich abgeschlossen scheint. Damals war er dann auch dazu übergegangen, die Bauern in der Ausrichtung ihrer Kulturpflanzungen zu beraten, was bis heute tatsächlich nachhaltig den Anblick der gesamten Soester Börde verändert hat. Zugute kam ihm hierbei sein ausgesprochen gutes bis freundschaftliches Verhältnis mit dem politisch einflussreichen Bauern Schulte Nortönnen. Der geneigte Leser betrachte mit diesem Hintergrundwissen die gesamte Landschaft rund um Soest und vergleiche sie mit den historischen Fotografien aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Entstanden ist ein riesiges Gesamtkunstwerk, das sich vielleicht erst bei einer Ballonfahrt völlig erschließt. Dann wird er Entdeckungen machen, die das Verständnis von Kunst grundlegend erschüttern müssen. So wurde zum Beispiel ein riesig langer Bergrücken zum Sauerland hin geschoben, der treffender Weise die Haar getauft ward. Dieses künstliche Gebilde trennt beide Landschaften deutlich sichtbar von einander ab. (Was mir hier gerade einfällt? Ich habe mich in diesem Text noch gar nicht über die Tendenz zu Steingärten aufgeregt.) Besonders gut gelungen ist diese Arbeit übrigens im Bereich des Möhnestausees. Außerdem ist die heutige Ausrichtung der von ihm angeregten Maiskulturen nicht zufällig, hier geht es um eine besonders feinfühlige Rhythmik, die man sich auch in den neu entstehenden Wäldern des benachbarten Sauerlands gut vorstellen könnte. Was wäre nicht alles auf den frei werdenden Fichtenbeständen möglich, die derzeit durch gezielten Wasserentzug und Käfereinsatz gebräunt sind. Bei einer solchen Ballonfahrt gegen Abend werden tatsächlich bei besonders schrägem Lichteinfallauch die leichten Geländeerhebungen sichtbar, die an verschiedenen Stellen spätsteinzeitliche Siedlungsstrukturen simulieren sollen. Laik Wörtschels Arbeit ist also im besten Sinne des Wortes langdschaftsprägend. Eine unglaubliche Intellektuelle wie logistische Leistung, die ganz nebenbei vielen Agronomen zu großem Wohlstand verholfen hat. Sicher auch, weil sich in den letzten Jahrzehnten zeigte, dass die von Wörtschel angeregte flächendeckende Aufschüttung von Lößboden zu höheren Erträgen führt.
Nun aber sein neuster Coup. Nach seinen „Landmarks“ und „Asphaltics“, nach den „Einstreuungen“, „Überschüttungen“ und „Verschiebungen“ schlägt der Künstler, der schon als Jungspunt an der Düsseldorfer Akademie unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung tauchend, das System der rheinischen Kunstlandschaft erfolgreich unterminierte und zugunsten Leipzigs und Berlins manipulierte, Ja, sogar teilweise zum Einsturz brachte, und der den heute so oft zitierten Lehrsatz formulierte: „Erst wenn Kunst in allem ist, ist in allem Kunst.“
Herr Nipp ist gespannt. Vor vielen Jahren hatte er diesen von vielen als Künstler des Grundwandels bezeichneten Wörtschel kennen gelernt. Damals hatte Herr Nipp noch geglaubt, das dessen Ideen niemals Realität werden würden. Damals war aber auch nicht abzusehen, wie wirkmächtig künstlerische Gedanken sein können, wenn man sich mit den oft missachteten und doch so mächtigen Bauern zusammen schließt und ihnen die Gewissheit gibt, die Landschaft und Zukunft im Sinne einer generationenübergreifenden Übereinkunft zu verändern. Zum eigenen Nutzen. Damals hatte Herr Nipp noch ganz einfach gedacht: „Spinner“.
Heute weiß er, es geht auch anders. Nur eines weiß er heute nicht, nämlich was ihm jetzt bevorsteht. Doch schon einige hundert Meter nach dem Anfahren des Busses werden seine Augen groß und vielleicht sogar auch ein bisschen eckig. Das kann doch einfach nicht wahr sein, was er durch die Scheiben des Busses sieht. Eine gleiche und doch völlig andere Stadt. Als habe der Künstler all die Beobachtungen und Erinnerungen aus Herr Nipps Notizen herangezogen und in die Realität übertragen.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.