Unzufrieden, aber glücklich

Der Himmel ist streifenfrei blau. Schon seit Wochen fliegen kaum noch Flugzeuge. Die Menschen bleiben zu Hause, haben keine andere Wahl, dürfen nicht mehr die Welt bereisen, die Staaten haben die Freiheiten begrenzt. Aufgehoben sind auch die Bürgerfreiheiten, für die eine Gesellschaft Jahrhunderte gekämpft hatte. Versammlungsverbote allenthalben. Ohne Murren haben Milliarden eingesehen, es geht wohl nicht anders, damit mehr überleben können. Pandemische Zeiten. So denkt er jetzt über das verlorene Jahr, wie es später genannt werden wird. Die Zäsur.

Herr Nipp ist früh aufgewacht, hat geduscht, die Arbeitskleidung angezogen, das Frühstück in aller Ruhe genossen, immer wieder den Blick auf seinen Garten gerichtet. Ruhender Blick, entspannt und liebevoll auf den knospenden Pflanzen, den Bäumen, die bald ihre Blütenpracht vollends zeigen würden. Kirsche und Äpfel jedenfalls, auch die Quitte, die er arg hatte beschneiden müssen, nur die vorlaute Pflaume hatte bereits begonnen, ihre schlohen Blütenblätter im Garten zu verteilen, schade eigentlich, dass die Bäume niemals gemeinsam blühen, dachte er. Andererseits hatte der Garten auf diese Weise eine längere Blütezeit. Zwei widerstrebende Gedanken. Genau diese Momente, wenn die ersten Frühlingssonnenstrahlen langsam die feuchte Morgenkälte vertrieb, genoss er, trank dabei seinen bescheidenen Milchkaffee und aß Löffel um Löffel das viel zu süße Müsli. Momente des Glücks. Wer hätte in dieser Zeit schon solche Morgenstunden? Wer könne sie denn dann überhaupt genießen? Wer sähe denn wohl die vielen Kleinigkeiten, die verschiedenen frühen Blüher, die Leberblümchen, den violetten und weißen Lärchensporn, die sattblauen Scilla, die gelben Schlüsselblumen? Wer beobachtete denn wohl die unscheinbaren Vögel, bemerkte die Reste der Farne vom letzten Jahr, die jetzt ihre Sporen verteilten? Herr Nipp war unzufrieden, gleich aufbrechen zu müssen, aber er hatte den anderen versprochen zu helfen. Das war allerdings letztlich genau sein Lebensgefühl, unzufrieden, aber glücklich.

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