Als er die Tür öffnet, stehen im Flur fünf junge Männer. Dem ersten Enidruck nach eine sehr internationale Runde. Europäische und Nordafrikanische, Asiatische Gesichter blicken ihm freundlich entgegen. Sie scheinen etwas erstaunt, haben nicht erwartet, dass noch jemand auftaucht. Herr Nipp fragt, ob es in Ordnung sei, wenn er bleibe. Dem Wunsch wird offensichtlich gern entsprochen. Er nimmt sich also einen der herumstehenden Stapelstühle und wartet ab. Eigentlich weiß er gar nicht, was hier passieren wird, er wurde einfach eingeladen, mal reinzuschauen, einfach so, vielleicht irgendwann mal Rückmeldung zu geben. Die fünf, einer spielt eine akustische Gitarre, wollen ein spanisches Lieb einstudieren. Vier von ihnen treffen schnell die Töne, einer haut jeweils um einer halbe Note oder mehr daneben. Aber sie haben alle ihren Spaß dabei. Lachen, singen, sprechen. Die Sprache des Liedes ist allen, abgesehen von Gitarristen, der das Lied geschrieben und komponiert hat, völlig unbekannt, aber so ging es ihnen wohl vor einem Jahr auch mit der deutschen Sprache und sie lernen schnell. Unverständnis macht nichts, solange es Menschen gibt, die irgendwie teilnehmen oder sogar helfen. Weiche Klänge in verschiedenen Tonlagen, vom Bass bis zum Tenor. Offenbar keine Gelernten, keine Sängerprofis. Aber sie machen schnelle Fortschritte, denn sie wollen und haben daran ihre offenbare Freude. Herr Nipp ist begeistert, wie schnell aus dem seltsamen Stimmengemisch eine gemeinsame Chorstimme, ein Klangkörper wird. Der Leiter spricht über das richtige Atmene und Pausen, über bops und Bridges. Weiche Stimme, wohlwollendes Lehren. Schnell wird der Besucher gar nicht mehr wahrgenommen, Finger schnipsen und die schlanken Körper geraten in Bewegung. Das Lied wird immer wieder begonnen, unterbrochen von Gelächter, selten zu Ende gesungen. Irgendwann beginnt auch der Eindringling mitzusingen oder zumindest zu summen. Zufrieden sitzt er da, hat den Blick verschlossen, die augen geschlossen und will nicht stören, einch genießen. Die Klangbilder kann er völlig in sich aufbauen. Die wechselnden Farben und Formen, welche sich langsam wälzend durch seinen inneren Raum bewegen. So etwas erlebt man viel zu selten, denkt er. Er muss an ein Gespräch mit einem jungen Bekannten denken, der ihm sagte, dass die Menschen viel zu häufig ihre Augen beim Hören nicht geschlossen haben. Menschen müssten die inneren Bilder der Musik erst sehen lernen, um die Musik auch nur halbwegs verstehen zu können. Aber Herr Nipp weiß, dass der größte Teil der Menschheit über diese Gabe des inneren Sehens nur rudimentär verfügt. Die meisten Menschen haben strickte Barrieren zwischen ihren Sinnen errichtet. Sie können keine Farben in den Tönen erkennen und keine Formen in den Rhythmen, sie leben strikter. Vielleicht sollte Herr Nipp auch musik machen? Doch dann muss er wieder daran denken, wie kläglich bisher alle Versuche gescheitert sind. Selbst aus dem nicht gerade hochkarätigen Schulchor wurde er damals ausgeschlossen. „Du hast eine Stimme wie rostiges Blech. Ich halte auch nichts von der These, dass jeder singen lernen kann!“ In den frühen achtziger Jahren gab es auf dem Land noch keine Kuschelpädagogik.
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