Situativ

„Das ist ja ganz gut, muss ich schon sagen.“ So geht diese Frau an ihm vorbei. Was sie meint, könnte er aus der Situation vielleicht erschließen, wenn sie ihm denn bekannt wäre, aber sie bleibt ihm fremd. Sie kniet sich einfach so vor eine Wand, ganz dicht, bleibt dort in dieser Haltung, so als würde sie etwas anbeten, etwas allen anderen Unsichtbares.  So etwas hat er bisher nur in katholischen Kirchen gesehen. Nur dass diese Frau keine Bank hat, sie kniet direkt auf dem Betonboden. Ihr schwarzer Kapuzenpullover mit einer fremdartigen Aufschrift, die dunkelblaue Jeans, ja sogar die Leinenschuhe sind mit farbigen Flecken übersäht. Die dunkelblonden, schulterlangen Haare wirken frisch gewaschen. Er würde jetzt gerne zu ihr herübergehen, ihr Gesicht zu sehen, aber das bleibt verborgen. Der Wand zugewandt, verdeckt von den offenen Haarschleiern. Zu Wand gerichtete Anonymität. Jetzt entdeckt er in ihrer Hand ein Werkzeug, es scheint ein Pinsel zu sein. Es ist ein Pinsel. Die andere, linke Hand hält eine kleine Palette fest. Sie scheint zu überlegen, sie zögert; holt sich von der anderen Seite des Raums einen Stahlrohrstuhl von Flötotto. Herr Nipp kann das Gesicht jetzt sehen, das ihm sehr widersprüchlich erscheint. Einerseits ist es voll konzentriert und eine gewisse Härte liegt in den leicht nach unten strebenden Mundwinkeln, trotzdem scheint sie völlig zufrieden ihrer Arbeit gewidmet. Ihre Gesichtszüge sind hart und weich zugleich, fast so als habe es sich noch entschieden, wie die weitere Entwicklung aussehen wird. Sie setzt sich nun, wieder vor die Wand, taucht den breitesten Pinsel, welchen er je gesehen hat, teilweise in die Farbe, ein dunkles Blau, tunkt ein weiteres Mal und wartet in aller Ruhe, bis sich die Räume zwischen den Borsten komplett mit der farbigen Flüssigkeit gefüllt haben. Sie beginnt eine Fläche auszumalen, es entsteht ein Dreieck in einem Kreis, der dort vorher schon zu sehen war. Randständig. Sie wechselt die Farbe und füllt die entstehenden Nebenflächen zügig wiederum mit einem rötlichen Violett. Die Fremde scheint sich nun ihrer Sache sehr sicher zu werden. Fein schubbernd verteilt sie die Farbmasse  hauchdünn auf der Wand. Darüber malt sie anschließend Rauten in verschiedenen Grautönen. „Was meinen Sie damit?“, fragt Herr Nipp, nachdem er eine Zeit lang zugeschaut hat. Sprache kann die Zeit überbrücken und dabei trotzdem weiter wirken. Eigentlich ist es viel zu spät, um zu wissen, worauf sich die Frage bezieht. Eine kurze ruckhafte Bewegung bringt den Körper zum Beben. Sie hat geniest. Herr Nipp greift zur Coladose, die er eben neben sich platziert hatte, lässt einige Schlucke des süßkalten Gesöffs die Kehle herunterrinnen, leckt sich die Lippen. Währenddessen neue Bewegung; durch ihr schnelles Aufstehen, Betrachten des Bildes aus einiger Entfernung, etwa drei Meter, dabei wird der Kopf leicht schief gelegt. Dann setzt sie sich wieder und führt ihre unglaublich schnellen Pinselschwünge fort. Die verschiedenen Töne der Ölfarbe werden ineinander vertrieben, eine räumliche Wirkung, ein atmosphärisches Leuchten, das zunächst nicht erklärbar scheint. Sie schnieft, als wäre etwas in die Nase gestiegen. Ein Reiz, vielleicht Staub oder ein Lösungsmittelhauch. Ölfarbmief. Nebenan aus dem Raum kommt ein pausenloses Stimmengebrabbel, fast ein Geplärre, die eine Stimme, die den größten Anteil von etwa sechs Fünftel hat. Er monologisiert und überschlägt sich dabei zuweilen selber. Die Gedankengänge werden immer wieder von zerbrochenen und neu gebauten Sprichwörtern durchzogen. Dies taucht Herrn Nipp in eine hoffnungslose Müdigkeit.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.