Wahrer Luxus

„AH!“, langgezogen und wohlig ist das er erste richtige Laut, den Herr Nipp an diesem Morgen von sich gibt. Zehn Minuten vorher war er aufgewacht, hatte sich, wie jedesmal eigentlich, nicht noch lange im Bett gelümmelt, sondern dieses wunderbare rote Bild gegenüber an der Wand angesehen, war energiegeladen aus dem Bett gehüpft (dieses letzte Wort wird Ihnen noch ein zweites Mal begegnen). Es ist seltsam, aber es gibt tatsächlich Bilder, die ihn aufladen können, als seien sie frische Akkumulatoren oder Batterien oder der direkte Anschluss an einen eigenen Generator. Dieses fast mystische Rot, welches von kirschig bis nahe zum Schwarz variiert, glänzend gelackt, jene rosafarbene rechteckige Fläche aus mattweichem Silikon, welches ihm vor Jahrzehnten, die damals junge Künstlerin Barbara Koch geschenkt hatte, ist ihm jeden Morgen eine Ladestation. Manchmal passiert es, dass die Sonne, von einem Fenster reflektiert, dieses Bild mit einem weiteren hellen Rechteck verziert, dann ist es ihm reines Glück. Einige wenige Augenblicke reichen ihm. Es ist eine seltsame Situation, seitdem er in diesem alten Haus eingezogen ist, gehört dieses Bild zu seinem Daheimgefühl; er hat tatsächlich einmal ausprobiert, aber dort darf kein anderes Bild hängen. Aber das tut an dieser Stelle eigentlich nichts zur Sache, denn er braucht einen weiteren Energiespender. Sein einziger Gedanke morgens ist seit jeher: „Kaffee!“ Ein echter Gedake, der Wahrheit verspricht. Er hat sich in die Küche begeben, die Bialetti bereit gemacht, auf den Herd gestellt. Da es an diesem Morgen doch ziemlich kalt ist, zieht er die dicke gräuliche Trainingshose an, jene, deren Beine unten fast wie riesige Glocken wirken, nicht schön, aber bequem. Das ist, soweit es Herrn Nipp bekannt ist, auch die eigentlich Funktion von Trainingshosen, sollte sie sein. Niemand trainiert mit solchen Ungetümen. Nicht schön, aber bequem. Zu tragen bitte nur im Haus, nur wenn niemand erwartet wird. Bitte nicht damit vor dem Haus fegen oder ähnliches! Das ist eben nicht sportlich! Den geflochtenen Weidenkorb, jenen riesigen, welchen er von einer Freundin irgendwann einmal geschenkt bekommen hatte, nimmt er sich in die Hände, links und rechts jeweils am Griff. Er prüft, während das Wasser im Kaffeekocher sich hörbar erwärmt, das Gewicht und stellt sich vor, wie schwer dieser wohl gleich sein wird, gefüllt mit Holz aus dem Schuppen hinter dem Haus. Die Treppe hinunter, unten findet er die die Tür versperrt vor, irgendwer hat wohl einen Besen davor gestellt. Nachdem aufgeräumt ist, öffnet er die Tür, hüpft die kleine Außentreppe herunter, ganz entgegen seiner sonstigen Ernsthaftigkeit, er wundert sich selbst und muss lächeln. Ganz kurz scheint es ihm, dass er als alter Mann nun doch langsam wunderlich wird. Vielleicht liegt es auch daran, dass er sich entschieden hat, den Rest dieser Jahre allein zu wohnen. Er füllt den Korb schnell mit gezielt gewählten Scheiten. Unten liegt das schwerer entzündliche Eichenholz, oben drauf einige Stücke Pappel, das reinste Streichholzholz. Oben in der Wohnung wieder angekommen, hört er dieses fast bedrohliche Brodeln, riecht den bunten Duft des Kaffees, der ihm Glückshormone erzeugt. Er schaltet das Radio ein, Deutschlandfunk, hört die neusten Nachrichten, gut strukturiert und meist sachlich. Politik, Terror, Wirtschaft, Sport, Wetter, Verkehr, Kommentare, Interviews und so weiter. Manchmal für Sekunden erklingt auch irgendeine Blödsinnsmelodie, die natürlich intellektuell klingen muss, bevorzugt Jazz oder Blues oder irgendso eine Neue Musik, also das, was früher einmal Avantgarde war, unstrukturiertes Geklimper. Aus der Tasse schlürft er vor dem Ofen stehend seinen Milchkaffee, genießt die Wärme, die an den Beinen hochkriecht, das Alleinsein auch, zwischendurch stellt er die viel zu große Tasse ab, greift sich einen Bildband aus der Bücherwand, die schon wieder aus allen Nähten platzt. So vielen Bücher gewährt er Asyl, auch solchen, die unlängst bei der Stadtbibliothek ausgemustert wurden. Das ist frühmorgendliche Zufriedenheit. Er muss grinsen, mindestens das zweiteoder vierte Mal an diesem Morgen, und weiß um seinen Luxus.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.