10 Uhr

Seit einigen Stunden ist Herr Nipp nun bereits wach, aber er kann sich nicht aufraffen, er hat das Morgengrauen erlebt, dieses bläuliche Licht durchlebt, das sich zu rosa wandelte, dann zu gelb und wieder blau. Der Himmel erstahlte plötzlich in fantastischem Farbgefüge, durchsetzt mit leichten Wolkenschleiern und den unvermeidlichen Kondenzstreifen der Flugzeuglinien. Immer wieder gleiche Richtungen bezeichnende Striche am Himmel, die sich langsam auflösen. Künstliche Hiebe in die Natur des Himmels. Der Mensch muss Zeichen setzen, immer. Den gesamten Morgen hat der Liegende diese Veränderungen betrachtet. Zuweilen musste die Position geändert werden, nicht weil es unbequem wurde oder der angewinkelte Arm vielleicht eingeschlafen gewesen wäre, sondern einfach weil es zu langweilig wurde, nur so da zu liegen. Nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet den Tag zu verbringen. Über sich liegt teilweise die unifarben bezogene Decke, das Kopfkissen hat er zu einer Rolle gedreht, damit der Kopf höher liegt und er keine Mühe aufwenden muss, aus dem Fenster zu sehen. Das Fenster ist gekippt, die Geräusche der Nachbarschaft dringen zu ihm herein, früh morgens die zur Arbeit fahrenden Menschen, die Vögel, die ihre Stimmen gegen den Lärm einer nahen Baustelle erheben. Kinder, die lachend und neckend auf dem Weg zur Schule sind. Seit Jahren zum ersten Mal hat er dies getan, so lange im Bett liegen. Vielleicht weil er genau darüber am vorigen Tag ein Gespräch geführt hatte, vielleicht auch, weil man die Langewile selbst einmal erlebt haben muss, um darüber schreiben zu können. Blödsinn denkt er und steht auf.

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