Jugendfreund

„Seien wir ehrlich, eigentlich gibt es ja gar nicht so viel zu erzählen. Also erfinden wir uns unsere Inhalte. Wir füllen das Erleben mit Wörtern und schon wird daraus eine Geschichte. Das ist wie Bildermalen, auch da gibt es gar nicht so viele Motive. Jetzt kann man sagen, dass es doch so viele Millionen Bücher gibt, dass doch jeden Tag neue Bücher hinzukommen, dass all die guten Bücher letztlich irgendwann auch verfilmt werden, dass dass dass. Abgesehen davon, dass eine ganze Industrie davon abhängt, dass neue Bücher publiziert werden, ganze Heerscharen von Verkäuferinnen leben mehr oder weniger gut davon – und nicht zu vergessen all die Autoren, die sonst Ärzte würden oder Lehrer, oh Gott, oder noch schlimmer als sozialarbeiter durch die Lade streiften –  oder heißt es striffen. Es geht aber um die Grundlagen des Erzählens, warum finden wir immer wieder Anlässe? Die Grundlage aller Geschichte hat denn auch das Gilgamesch-Epos gesetzt. Worum geht es letztlich denn? Um die Beantwortung von Fragen, grundlegenden Fragen – nach dem Sinn des Lebens, nach Freundschaft und Liebe, es muss etwas vorangehen, niemals nur an einem Ort, oder wenn, dann muss dieser Ort verdichtet werden, immer weiter verdichtet. Die Hölle ist von Menschen gemacht. Hast dur dir eigentlich schon mal Gedanken arüber gemacht, was die Hölle ist?“ Herr Nipp kann dem Vortrag seines Gegenübers kaum folgen, so schnell wechselt sein Gegenüber, ein gleichaltriger Mann, den er von früher kennt und den er wirklich mag, die Themen, indem dieser geschickte Brückenstellen einsetzt, so geschickt, dass ein Wechsel von der Betrachtung eines R16 zum schwarzen Bilsenkraut, jenes mit den wundervollen gelben gefleckten geäderten Blüten, ohne Probleme möglich ist. Vom Bilsenkraut zu schlitzblättrigem schwarzen Holunder und die Schwierigkeit der Nachzüchtung, zu den Telekien, einem Vergleich mit den echten Alant und dann über fleischfressende Pflanzen zur Reparatur von Lampen der Marke Kaiser-Idell. Fragen des Strukturwandels am derzeitigen Standort werden konfrontiert mit dem Problem des rechts- und linksdrehenden Wassers – und was wohl besser ist. Hält er in der einen Sekunde noch einen Vortrag über die Herkunft der Geschichten an sich, belegt er dies beispielhaft mit irgendeinem konkreten Werk und findet darin einen Aspekt, den er zum Vorwand nimmt, ein neues Thema zu beginnen. Das hat den Vorteil, dass er selber am Ball bleibt, er selber die Marschrichtung vorgeben kann.  Er nutzt im Gespräch die innere Fernbedienung, derer wir uns vor dem Fernseher bedienen. Er schaltet um, und genau diese Stele des Programmwechsels wird geschickt mit einem Nebensatz gefüllt, einem Wort, welches Verbindung herstellt. Diese Brückenstellen sind es, die Herrn Nipp fast mit den Ohren schlackern lassen. Er ist überzeugt von der überlegenen Intelligenz seines Gegenübers, von der fast metaphysischen Vertiefung in ein Thema. Doch unterschwellig hat er auch die Ahnung, dass er hier manipuliert wird, die nächste halbe Stunde gebannt zuzuhören, nicht zu gehen und vielleicht doch noch eine Zigarette zu drehen. Ein tiefe Sympathie überflutet ihn in solchen Momenten und erst wenn er gegangen ist, erst nachdem er von dem folgenden Spelunkenbesuch nach Hause zurückgekehrt ist, bemerkt er plötzlich, dass er den ganzen Abend über nichts mehr gemacht hat, erst musste er zuhören, danach nachdenken. Es ist gut, solche Freunde zu haben.

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