Der Sturm

Herr Nipp hatte sich den ganzen Abend in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, hatte alte Zeitschriften und aktuelle Bücher über den deutschen Expressionismus geblättert. Alles auf der Suche nach einem guten Text, der als Grundlage für eine Betrachtung dienen könnte. Fündig wird er nach einigen Stunden in der Zeitschrift DER STURM, eine Kunstzeitschrift, die Herwarth Walden 1910 gegründet hatte, um seine Vorstellung von moderner Kunst in allen Bereichen der Kultur einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Er verliert sich in dessen Texten, in jenen von Else Lasker-Schüler und Döblin, von Stramm und Trakl, in den Anekdoten und Gedichten, den Berichten und kann nicht aufhören zu lesen, zu sehen. Die Grafiken und Gemälde, die Zeichnungen und Plastiken, welche abgebildet sind. Die Tätigkeiten und Aktionen, die Stellungnahmen und Beurteilungen von Ausstellungen, Ankündigungen, Anzeigen uns so weiter. Aus dem Abend wird eine ganze Nacht: Sämtliche Bücher sind im ganzen Raum verstreut, er sitzt in der Mitte, sozusagen im Auge des Sturms. Immerhin hat er sich einen ersten, einen ungefähren Überblick verschafft. Immer wieder greift er in die vollen, zieht Blätter hervor, ordnet sie irgendwelchen Stapeln zu, nach einer Ordnung, die nur er versteht in diesem Moment; käme jemand anderes hinzu, er würde nur Chaos sehen, würde im Grunde genommen das Bild sehen, welches der Expressionismus in seinem Inneren selber erzeugt hat. So viele Ansätze, Ströme und Richtungen, so viele auseinander strebende Gedanken. Das Bild, welches sich uns heute darstellt, ist vielleicht nur deshalb so einheitlich, weil wir es gewohnt sind, die stärksten Ideen als wichtigste anzunehmen. Die Perspektive des Betrachtens bestimmt wie immer das vermeintliche Verstehen. Ja, jetzt hat er eine Grundlage, einen Ansatz für den nächsten Text, welchen er schreiben wird, jenen über ein Heimatgefühl nach dem 20. Jahrhundert. Denn: Ist das überhaupt noch möglich?

Als er nach draußen geht, muss er erkennen, dass der Sturm  „Thomas“ des nachts sämtliche Bäume im Garten flachgelegt hat. Alles scheint ihm unbekannt.

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