Ein letzter Brief

An diesem Abend hatte er noch lange zu Hause am Küchentisch gesessen, den er ereinst von einem Freund geschenkt bekommen hatte, so wie die meisten Sachen in seiner Wohnung geschenkt waren, auch viele Bücher übrigens, denn jeder seiner Freunde wusste doch, dass er gerne las, nein, dass er Bücher verschlang und seinem inneren Weltkonglomerat einverleibte, dem er letztlich seine Ansichten über Vorgänge entnehmen konnte. Herr Nipp war am vorigen Tag von einer dieser Partys gekommen, die nur zu Anlass eines Jubiläums gefeiert werden. Feiern, die die Weggefährten der letzten Jahrzehnte vereinen sollen. Eine peinlich schlecht improvisierte Rede, gut gedachte Verpflegung von einem stadtbekannten Caterer, alles in gelenkten Bahnen. Da saß er nun vor dem Tagebuch, welches er schreiben wollte, weiterschreiben, weil es vielleicht eine der wenigen Sachen in diesem Lebenssturm war, die ihm Halt zu geben imstande sein konnte. Einem Werk, das er bei sich zuweilen auch das Buch der Schmerzen nannte, nicht weil es sich um echte Gefühle handelte, sondern weil es immer wieder Schmerz bereiten konnte, wenn er auch nur anfangen sollte zu schreiben. Nun aber floss es geradezu aus ihm heraus, kein Schmerz, eher ein leichtes Erkennen und er wusste, er würde diese Worte für sich behalten, würde sie nur den geheimen Protokollseiten anvertrauen, jenen, die niemand öffnen kann, der nicht seine DNA besitzt oder einfacher gesagt, der oder die keinen Zugang zur Site haben.

„Ein Wiedersehen zum Teil nach Jahren oder langen Monaten fehlender Notwendigkeit und ich muss leider feststellen, dass es mich wenig berührt. Nur wenige Menschen von dazumal interessieren mich und einige habe ich wohl einfach vergessen. Sie mich glücklicherweise wohl auch. Immerhin konnte mit einigen wenigen gesprochen werden, die mir immer schon sympathisch schienen. Zwei richtig gute Konversationen jenseits des üblichen Smalltalks, auf den sich unsere Gesellschaft zurückzuziehen neigt, nicht nur zu solcherart Anlässen, sondern mit zunehmendem Alter, mit zunehmender Gleichgültigkeit immer mehr. Vielleicht hätte der Abend einen glücklicheren Verlauf genommen, wären nicht diese offenbar inzwischen unvermeidlichen Schlagersongs und abgedroschenen Popliedchen der von mir nie gelebten, zumindest aber anders wahrgenommenen Jugend dazwischen gekommen, die alle so ehrfurchtsvoll mitgrölen, die Augen in halber Exstase geschlossen. Ja, teilweise konnte ich sogar leichte Tränenbildungen beoachten, vor allem bei jenen, denen wohl schlagartig zu Bewusstsein kam, dass der Zenit schon längere Zeit überschritten ist, man sich zwar hartnäckig dagegen gewehrt hat – und sei es mit einem wahnsinnig aufregenden Partnerwechsel in ein neues Scheitern wenige Jahre später. Wenn Menschen in ihren sogenannt besten Jahren plötzlich wie Teenies auf die Tanzfläche stürzen. In Kleidung, die wahrscheinlich den Zwanzigjährigen abgekupfert sein sollte und dabei so lächerlich wirkte. Ich hätte zynisch werden können, verbat mir dies jedoch, im Wissen immer, dass alles wie so oft zum absoluten Absturz führen konnte. Mit der Zeit, die Tanzfläche füllte sich und blieb für längere Phasen dicht gedrängt, konnte ich die alte Schutzhülle bemerken, die schon so oft Halt im Rauschen der Ereignisse gegeben hatte, konnte wahrnehmen, wie sich dieses stabile und doch so angenehme virtuelle Exoskelett in die richtige Position schob, mich von äußeren Angriffen zu schützen begann, ohne dass jemand anderes etwas davon mitbekam. Ein Fels in der Brandung, jenen seltsamen Ereignissen, die auferlegt schienen, die nicht mehr steuerbar waren. Nur die beiden DJs am Mischpult schienen noch einen Hauch von Kontrolle über die Masse zu haben. Ich fühlte mich festgenagelt, hielt mich im Bewusstsein meines Altseins am alkoholfreien Weizen – Glas fest und konnte nur Verwunderung verspüren. Wie fremd doch alles mit den Jahren  wird. Ich erhob mich langsam, ohne dass auch nur einer oder eine der Anwesenden davon Notiz nahm, machte mich auf den Weg zur unten liegenden Toilette neben dem Ausgang und hatte tatsächlich nicht vor, diesen Aus – Weg zu nutzen. Aber irgendwas zwang mich, die Jacke in die Hand zu nehmen, die unter der Garderobe platziert war. In aller Ruhe streifte ich diese graue Lodenjoppe über, immer noch halb bewusst, was da geschah und befand mich schon im nächsten Moment auf halber Strecke zum Auto. Keine Frage, wie das wohl passiert sein konnte. Dann wird es tatsächlich vielleicht endlich Zeit. Es folgten viele „Dann“s. Dann auf halber Strecke nach Hause, dann die Haustür, dann das Bett und dann der neue Morgen. Ein Morgen älter wieder. Manchmal lebe ich in Zeitabschnitten und alles Zwischenzeitliche, das Interim, geht verloren.“

Er scrollte seinen Text und las ihn noch einmal durch, befand ihn für richtig.

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