Denkwege

Zwischen den Tischen stehen ziemlich viele harte Stühle. Holzstühle, alte Schule. An den Tischen sitzen halbe Kinder. Von 10 bis 12 Jahren sind sie noch nicht ganz jugendlich, nicht mehr ganz Kinder. Sie merken selber, dass mit ihnen, ihrem Denken und dem Körper etwas vorgeht, etwas nicht Abschätzbares. Sie selber verstehen noch nicht so ganz, was das denn ist. Auch die Gedanken haben sich verändert, schlagen sie doch plötzlich seltsame Kapriolen, neue Synapsen schaffen neue Möglichkeiten. Die Verbindungen zwischen den Hemisphären werden mit jeder Sekunde radikal verstärkt, alles wuchert, auch wenn äußerlich nicht viel zu sehen ist. Jeden Moment kommen neue Kontakte hinzu. Jeden Tag bilden sich neue Denkwege. Das wissen sie nicht, sie merken es wohl. Jeder Erwachsene ist letztlich froh, diese Zeit lang hinter sich gelassen zu haben und guckt doch irgendwie sehnsüchtig zurück. Epoche der Entdeckungen, nicht der Unschuld, aber erster Erfahrungen. Egal in welche Richtung. Echte Freundschaften, erste Lieben, tiefe Enttäuschungen für das Leben, die nach wenigen Tagen schon vergessen sind. Kaum etwas aus diesen Jahren bleibt hängen, wird verdrängt. Ins Hinterstübchen, um vielleicht in Jahrzehnten plötzlich plastisch aufzutauchen. Das Verdrängen funktioniert inzwischen perfekt, dank der kleinen Kommunikatoren; Hochleistungsrechner, die jedes Kind mit sich führt.
Herr Nipp soll ein wenig mit diesen Kindern sprechen, ihnen von den Erfahrungen berichten, die er in den Dolomiten gemacht hat. Das hat erstmal gar nichts mit deren Situation der Denkveränderung zu tun. Oder vielleicht doch, denn dieses Ereignis steht ihm immer wieder einmal vor Augen, als sei es gestern geschehen. Dabei weiß er natürlich, dass die Rückschau alles verändert, mit jedem Erinnern. Die Vergangenheit ist keine feste Wahrheit. Bedingungen unterliegen immer wieder immer neuen Einschätzungen und Wertungen. Gefahren sieht der Mensch in jeder Lebensphase anders. Wer mit zehn aus drei Metern Höhe auf den Rasen abspringt, ist mutig, der wird in jede Gruppe aufgenommen, Mutprobe bestanden, wer es mit 25 macht, ist kindisch oder wahnsinnig cool und Gleiches mit 70 zu tun wäre absoluter Wahnsinn, selbstmörderisch. Oberschenkelhalsbruch.
Es geschah damals unter Bedingungen, die für die meisten heute vielleicht unvorstellbar sind. Dolomiten waren irgendwie abenteuerlich, an jeder Ecke konnte man noch Überbleibsel, Patronenhülsen und Magazine aus dem ersten Weltkrieg finden. Sogar eine Granate hatten sie einmal entdeckt. Wenn der Schnee taute, konnte man sich auf Entdeckungen freuen. Zweifelhafte Entdeckungen auch.

Auch heute noch finden sich die Reste dort oben, die Unterschlüpfe und Unterstände, die Bunker und was noch alles, aber heute ist die Landschaft doch meist leer geräumt. Zu viele Sammler, Militariasammler, oft verkappte Kriegsbegeisterte. Aber das soll ja gar nicht Thema sein. Es soll um ein Erlebnis gehen, das ihm sehr nahe gegangen ist, existenzielle Erfahrung. Auch wenn es mit den Unterständen zu tun hat.
Er war damals selber vielleicht elf, mag auch sein schon zwölf Jahre alt. Sie waren mit einer achtköpfigen Gruppe zu einem Berg gewandert, Sehnsuchtsziel nach dem Motto „Der Berg ruft“. Dann ging es über die Stahlleitern nach oben, senkrecht. Angeleint an Seile, Adrenalin pur. Am Brustgurt immer zwei Karabiner, so war man an jeder Stelle gesichert, auch wenn gewechselt werden musste. Obwohl so jung, hatten die Kinder dieser Gruppe inzwischen eine gewisse Routine darin entwickelt. Auch das so eine Sache, in diesem Alter lernt man schnell und was gestern noch neu war, ist heute ein alter Hut. Schon seit einigen Jahren traf sich die Gruppe aus insgesamt vier Familien und drei Städten zum gemeinsamen Wandern und Klettern, man hatte sich dort oben in einer Pension kennengelernt und angefreundet. Die Väter hatten aus Sorge um die Blagen und vor allem auf intensives Insistieren der Mütter für alle Gurte gekauft. Für die damals noch überall zu findenden Schneefelder waren auch Eispickel angeschafft worden und Schneeeisen. Teure Sache damals. Die Eisen ließen sich schnell an- und abschnallen, an Schuhe, die Anfang der achtziger Jahre noch aus dickem Leder und mehrschichtigen Fiberglas- und Gummisohlen bestanden. Klumpfusswandern. Das Leder musste nach jeder Wanderung mit schmierigem Fett eingestrichen werden, eine wahre Wissenschaft für sich. Innovative Technik, die heute seltsam altmodisch aussieht. Aber jeder hatte seine eigene Technik, auch die zwei paar Socken waren wichtig. Die mussten so geordnet werden, dass sich niemand Blasen lief, das wäre gerade auf den mehrtägigen Hüttentouren geradezu tödlich gewesen. Wer Blasen hat, kann nicht mithalten. Das Zuschnüren an sich war schon fast ein religiöses Zeremoniell, das Gebet des Bergsteigers, bei dem man sich zwischen „Im Namen“ und „Amen“ gegenseitig Tipps gab. Niemand wollte schließlich Steine oder Steinchen im Schuh haben. Und trotzdem mussten die Socken so geordnet sein, dass sie jederzeit bei aufkommender Waschküche, wie der Nebel dort oben gern genannt wird, hochzukrempeln wären. Die Waden mussten geschützt werden, weil traditionell mit Kniebundhose gewandert wurde.
Langatmig erzählt er sein Erleben damals, kommt vom Kleinen ins Kleinste und doch nicht zum eigentlichen Erlebnis, das ihn damals verändert hatte. Im Erzählen merkt er, dass die ersten Kinder ganz friedlich werden, zur Ruhe kommen, die Augen schließen, einschlafen. Wer kann es ihnen verdenken. Wer den ganzen Tag mit den Augen gebannt auf einen winzigen Bildschirm starrt, der kann akustischen Denkwegen kaum noch folgen.

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