Wohnzimmerdschungel

So richtig wohl fühlt er sich natürlich nur, wenn auch einige Pflanzen im Wohnzimmer stehen, auf den Fensterbänken ganz klassisch jedes Frühjahr die entsprechenden Frühblüher, oft ein Wechsel von blauen Traubenhyazinthen und gelben kleinen Osterglocken, die sich „Vis-à-vis“ nennen. Fast ins Indischgelb changierend. Eine herrlich erfrischende Farbe. Wenn sie nach anderthalb Wochen ausgeblüht sind, werden sie im Garten ausgepflanzt, so ergibt sich mit den Jahren ein schöner Frühblühergarten.

Meist allerdings stehen auf dem Fenstersims Ansammlungen von verschiedenen Kräutern. Pflanzen, die nicht nur schön sind, sondern auch noch nützlich. Das passt zu ihm. Beim Kochen können sie genutzt werden und sie verzeihen das Stutzen nicht nur, sondern reagieren mit vermehrtem Wachstum und stärkerer Würze. Was wohl als Abwehrreaktion gemeint ist, kommt Herrn Nipp wirklich entgegen, wenn er mal wieder neue Rezeptchen kreiert. Lauter lustige Leckerereien, die er sich zunächst im Kopf zurechtschmeckt, bevor sie in Pfannen und Töpfen gebrutzelt und geschmurgelt werden. Ganz unkonventionell sich nicht an die üblichen Richtlinien haltend. Die Reihenfolgen interessieren ihn nicht, sondern die Ergebnisse. Es muss einfach lecker schmecken. Eine Sensation auf der Zunge, alle fünf Geschmacksrichtungen ansprechend. Eine gute Konsistenz. Wenn er so zu seiner Fensterbank hinüberschaut, die aus dunkelrotem Stein besteht, der vielleicht in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts einmal modern war, jetzt aber als wirklich klassisch bezeichnet werden kann, dort neben den Kaiser-Idell-Standleuchten seine Sammlung an lebenden Gewürzen erblickt, dann läuft ihm schon das Wasser im Munde zusammen. Beim Gedanken an das nächste Gericht. Rosmarin neben Thymian, Majoran neben Zitronengras. Mal sind es mehr, mal auch nur ein Kraut.

Weiterhin zu finden sind im Wohnzimmer einige praktische Büsche, die entweder geschenkte Selbstzieher oder echte Selbstpflanzer sind. Klassiker eben. Eine Pampelmuse, die heute Grapefruit genannt wird, die seit Jahren ihre Größe nicht wesentlich verändert, wohl weil zu wenig Boden zur Verfügung steht, so eine Art Bonsai. Eine Avocado, die in den letzten Wochen ihre Blattwerkzahl mal eben so verdoppelt, neue Zweige gebildet hat und nun fast jeden Tag gegossen werden möchte. Die ältesten Blätter sind drei Jahre alt und riesig und ledrig und an den Spitzen braun. Die jüngsten dagegen scheinen geradezu durch ihre Zartheit. Die Zweige sind grün und verholzen erst allmählich, selbst der Haupttrieb ist erst zu 20 Zentimetern graubraun.

Und zwei Kaffeebäume, die sozusagen seine Vorliebe für einen guten Kaffe anzeigen. Diese sind Geschenke aus einer Haushaltsauflösung. Umzug von Aachen in die Provinz. Die beiden hatten ihre Probleme mit der Akklimatisierung, denn bei Herrn Nipp herrschen im Winter oft lausige Temperaturen um die 15 Grad, nur wenn Besuch kommt, gibt er sich einen Ruck und erhöht dann auf locker 22 Grad, was ihm selbst gar nicht so gut gefällt. Dann feuert er seinen Ofen an und lässt den Staub tanzen. Inzwischen wissen die beiden dunkelgrünen Helden damit allerdings ganz gut umzugehen, treiben regelmäßig neues Laub, nur geblüht haben sie leider noch nicht. Aber das hat Zeit, denkt er. Alles steht da in voller Pracht.

Doch bei genauem Hinsehen kam ihm vor einiger Zeit ein Graus nach dem ersten Schock: Die Kaffeepflanzen sind von Schildläusen befallen, der Thymian von Läusen und aus sämtlichen Töpfen krabbeln winzige schwarze Mücken. Sein Habitat ist tasächlich zu einem Biotop für Pflanzen und Tiere mutiert. Der Dschungel ist unkontrollierbar. Was kann man da tun? Soll man etwa den Boden komplett wechseln, wie es einige Internetspezialisten vorschlagen, dabei aber eventuell die zarten Würzelchen beschädigen? Soll man jedes hervorkriechende Tier mit dem Staubsauber erlegen wie ein Kleinstwildjäger auf der Lauer liegend, damit auf keinen Fall eine Fortpflanzung möglich wäre? Schon nach gut zwei Wochen sollte dann das Problem gelöst sein. Einige Experten raten, sie arbeiten wohl bei BASF oder BAYER, dazu, die chemische Keule zu schwingen. Effektiv werden mit der Pflanzenvergiftung alle Störenfriede eliminiert, dass man dann eine pflanzliche Sondermülldeponie beherbergt, scheint dabei niemanden zu stören. Auch die Schildläuse müssen schließlich doch mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, verlangen gleiche Leute. Sehr gefährlich. Herr Nipp ist sich nicht so sicher. Seit einigen Wochen beobachtet er nun, was sich da so tut. Die mückigen Fliegen scheinen eine konstante Population aufzubauen, die Läuse kann man vor Verzehr der Kräuter abspülen und die Schildläuse begrenzt er auf einige wenige Blätter, indem er die anderen laut Rat eines Arbeitskollegen mit Rapsöl behandelt hat. Letztlich geht es hier um eine freiwillig unfreiwillige Koexistanz. Und erst in einer Woche, wenn die Eisheiligen auch wirklich vorbei sind, kommen die Pflanzen nach draußen und können dort neue Energien tanken. Die Plage löst sich vielleicht von allein, durch Mithilfe von Meisen und Marienkäfern, von Florfliegenlarven und anderem Getier, das Herr Nipp gar nicht benennen kann. Im Herbst wird er sich seiner Mitbewohner dann wieder erbarmen. Vor den ersten Frösten, aber daran mag er jetzt noch gar nicht denken. Und wer weiß, vielleicht haben sich dann auch neue Mitbewohner eingeschlichen, die an langen Winterabenden ein spannendes Beobachtungsfeld darstellen.

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