Der Baum muss weg – oder wie Faust und K. verhandeln

Zum dritten Mal nun, im dritten aufeinanderfolgenden Jahr, sieht Herr Nipp, wenn er morgens ans Fenster tritt und dem Aufgehen der Sonne seine Blicke schenkt, im Garten den gesamten Mai über die Clematis rubens blühen. Würde die Sonne jeden Morgen ihn wecken, so sähe er dieses Wunder sicher jeden Morgen. Ein seltsames Gefühl ergreift sein Herz dann, fühlend, hier sei er Mensch und könne es auch sein. Die Vorbesitzer hatten das zumals ehemalig zarte Rankgewächs, welches mit den Jahren an Wuchs und Üppigkeit zugenommen hatte,  wohl an eine uralte Pflaume gesetzt, die inzwischen ebenfalls im dritten Jahr nicht mehr lebt. Der Stamm ist geblieben in seiner typischen Drehung auf Pflaumenart, die eine besondere Statik erzeugt. Einige Äste und Zweige haben sich erhalten, andere wurden schon vom Winde geworfen. Dieses Holz hat er immer schon geliebt. Vor allem, wenn es gut geölt und gewachst ist, entwickelt es eine wunderbar rötliche Farbe, die an warme Abende zu zweit vor dem Ofen erinnert. An Nächte der geistigen wie körperlichen Vereinigung, der absoluten Hingabe. Des Genusses. Wenn die hellen Flammen ihren Dienst versagen, wenn die restlichen Stücke des abgebrannten Holzes, jene oft bewunderte Glutkohle, nur noch tiefes Rot erlauben. Vielleicht sogar noch schöner als die Farbe des Kirschholzes. Bald würden wieder die Reste der rosafarbenen Blüten durch den Garten fliegen und ein frühsommerliches Schneetreiben erzeugen. Bald würden sich auch die dunklen Blätter zur Photosynthese entfalten, die sich nie entscheiden konnten, ob sie nun rot oder grün zu werden gedachten. Ja, man kann auch in Zeitzonen denken, die fernab liegen, Herr Nipp freute sich jedoch jeden Morgen am Jetzt, an der überbordenen Pracht. Ein wahrlich barockes Vergnügen. Anders wäre es ihm vorgekommen, als rede man einem gerade gewordenen Jugendlichen ein, er werde auch bald vergehen. Der Jugendliche soll erstmal sein Leben, dieses stetige Wachsen vor dem einsetzenden Verfall genießen. Sicher auch dies barock zu nennen, aber hier nicht angebracht.

Am Tage zuvor aber war der Gebieter des Gartens ebendort erschienen, mit all seiner Besitzermacht, die ihm stolz ins Gesicht geschrieben schien, hatte den Baumstumpf eingehend betrachtet und befunden: „Der Baum muss weg.“ Die Begründung war schwerlich von der Hand zu weisen, denn bald würde das Skelett von allein kippen und Mensch wie Haus gefährden. Herr Nipp handelte mit dem sturen Mann und schlug wenigstens eine Frist bis zum Ende der Blüte, bis zum Ende der Brutzeit der Tauben im Wust der Ranken heraus. Der Baum würde nicht gefällt, aber in zwei Meter fünfzig Höhe gekappt werden, soviel immerhin konnte beschlossen werden, um die Clematis rubens, die dem Garten sein Gepräge gab, nicht vollends zu zerstören. Mit solchen inneren Disputen musste er sich also herumschlagen im Anblick der vollen Blüte, zwei Seelen, ach, wohnten also in seiner Brust.

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