Die Kiste XII

Neben sich auf dem Tisch steht eine Flasche Cola. Alte Marke, die in den siebziger Jahren revolutionäre Werbung machte. Afri  – Cola. Nein, sie schmeckt nicht so glatt wie das andere braune Gebräu (das ist nicht politisch gemeint), das man gewohnt ist. Sie ist auch eigentlich viel zu süß und gleichzeitig herb, alles etwas zu viel. Gerade deshalb auch so lecker. Eigentlich paradox. Daneben hat er in der weißen Tasse mit Sprung einen starken Kaffee. Gebraut mit einer Bialetti. Sehr schwarz und kaum Crema, dafür viel Koffein, lässt sich zumindest vermuten. Ein bitterherber Geschmack, nein, die Kenner sprechen natürlich von Aroma. Er trinkt die hohe Tasse Espresso ohne Milch, ohne Zucker und ohne das Gesicht zu verziehen. Schon der erste Kontakt mit den Rezeptoren auf der Zunge gibt ihm einen kleinen Kick, einen Tritt in den Hintern.

Herr Nipp hat eine lange Nacht vor sich, will endlich den Text zu Ende schreiben, den er schon Monate im Kopf oder Herzen trägt. So gegen zehn Seiten sollten es noch sein. Auch Knabbersachen sind bereit gestellt. Er muss endlich diese unglaubliche Müdigkeit, die sich zwischen den Schläfen breit gemacht hat, bekämpfen. Sich den Schlaf aus den Gliedern schreiben. Vielleicht hilft es was. Schluck für Schluck werden die Getränke genüsslich verkostet. Die Müdigkeit wird schon bröckeln, so hofft er jedenfalls.

Alles nutzt nichts, alles hilft wenig, wenn der Körper einmal beschlossen hat zu schlafen. Irgendwann wird er seine schmalen Augenschlitze schließen, erst nur Momente, später immer länger. Nein, er schnarcht nicht, aber die Träume überschlagen sich. Bis es an der Wohnungstür klingelt. Er öffnet oder vielleicht war sie auch schon offen, wer mag das so genau zu sagen, eine wahrlich traumhafte Frau tritt ein und setzt sich zu ihm. Das hatte er nicht erwartet, nicht so, so unvorbereitet. Da sitzt sie nun mit ihrem Blick. Einem, der ihn immer wieder irritiert. Aufweckt, das Herz schlagen lässt, als wäre er nie müde gewesen. Sie sagt nicht viel, schaut nur, mit kritischem Blick, mit kritisch gekräuselten Lippen. Er kann sich nicht daran erinnern überhaupt sprechen zu können. So sitzen sie sich die halbe Nacht gegenüber. In stummem Gespräch. Ganz gegenseitig in sich versunken. Sie bewegen sich auch kaum. Der Atem ist in flachen Gleichklang verfallen, dieser gleichmäßige Rhythmus des Hebens und Senkens. Es geht nur um das Jetzt, diese Stunden der Selbstverunsicherung und gleichzeitigen Sicherheit, dass der Moment zählt. Die Gedanken werden strubbelig, verwirren sich aber nicht dabei, nehmen nur andere Abzweigungen als gedacht. Als entstünden neue Synapsen im Sekundentakt. Alles flutet, ganze Universen wollen entstehen, mal weiter weg, mal ganz nah.

Aus Verlegenheit zieht er irgendwann die kleine Holzkiste zu sich und greift beherzt vorsichtig hinein. „Die Paradoxie zeichnet die besten Träume aus.“

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