Exkurse

Er hatte sämtliche Texte, die zu bearbeiten waren, inzwischen wirklich fertiggestellt, hatte sie auf die Fehler überprüft, welche man immer wieder überliest. (An dieser Stelle schon soll darauf hingewiesen werden, dass die seltsam anmutende Verwendung des Wortes „wirklich“ hier im Satz auf die vielen „nicht wirklich“ – Verwendungen im Alltag an jegliche und meist völlig sinnlose Stelle, ein Teil der Veränderung unserer Sprachstruktur darstellt. Nur weil in den achtziger Jahren die Synchronisation es einfacher erscheinen ließ, bei Dallas und anderen Serien das „not really“ mit dieser Neufloskel zu übersetzen, anstatt die tatsächliche Übersetzung „wirklich nicht“ zu verwenden, hat sich dieser tatsächlich blödsinnige Anglizismus in unsere Sprache eingeschlichen, der seit einiger Zeit sogar in den Feuilletons der Republik verwendet wird. Wer bitte kann mir den Sinn der Wortfügung „nicht wirklich“ erklären? Soll dies eigentlich eine Abmilderung zum schönen Wort „nicht“ darstellen oder geht es um die Negierung der Wirklichkeit? Herr Nipp jedenfalls hatte sämtliche solcher Wortfügungen aus den Texten verbannt, umschrieben oder zu „nicht“ reduziert.) Der vor Jahren geäußerte Tipp eines Freundes sollte im Übrigen sehr hilfreich sein. Wenn ein Text in anderer Schrift noch einmal ausgedruckt wird, dann liest man ihn auch anders. Dann entdeckt man auch die letzten Fehler. Besser noch gibt man den Text an eine Orthographiekundige oder einen echten akademischen Linguisten, gemeinsam werden sie alle Unmöglichkeiten, jeglichen kleinsten Lapsus, all die kleinen stilistischen Unsicherheiten tilgen. Nun war endlich alles fortgeschickt an den Designer, der alles in die richtige Reihenfolge bringen würde. Und irgendwann wird man das Ergebnis in der Hand halten. Ein Heft. Einige Texte waren Berichte über Exkursionen, andere berichteten über Geschehenes oder wie es ehemaligen Mitarbeitern ergangen war. Diese Art der Selbstvergewisserung in Chroniken ist bei vielen Organisationen recht beliebt. Einige Institute legen dazu ganze Sammlungen mit Pressespiegeln an. Jedes Jahr werden solche Konvolute veröffentlicht.

Herr Nipp lehnte sich zufrieden zurück, die Arme über dem Bauch verschränkt. Betrachtete sein Werk. Er kam sich mal wieder wie ein Beamter vor, der nun die letzten drei Stunden des Arbeitstages selbstzufrieden abwarten könnte. Die Mikadohaltung einnehmend, nicht bewegen. Nein, das war nun wirklich nicht sein Ding. Da im Rechner keine weiteren Aufgaben in Form von Emails vorlagen, stand er auf, ging zur Garderobe, schnappte sich seine oft genutzte, grünliche Wanderjacke, die natürlich das Firmenlogo an der rechten Schulter sitzen hatte, damit auch von hinten zu erkennen war, dass man sich die richtige Marke leisten kann. Auch, wenn man einen Rucksack geschultert hat. Er zog auch die Wanderschuhe an, die er vor einem halben Jahr erworben hatte. Das Besondere an diesen war, dass sie seine Vorliebe für die Farbe Grau widerzuspiegeln vermochten. Immerhin hatte man insgesamt fünf Farbtöne aus dem diffusen Bereich zu einer fast abenteuerlichen Komposition zusammengebracht. Eine disharmonische Rhythmisierung, die doch nur eine Botschaft zu vermitteln suchte: Ich bin da, um zu wandern. Fertig. Die Schleife der Schnürbänder wurde von Herrn Nipp grundsätzlich nicht gelöst, das konnte schon mal im Wandern passieren, aber meist halten solche Doppelknotenlösungen über Monate. So konnte er immer davon ausgehen, dass die Schuhe auch die richtige Schnürungsenge haben würden. Nachziehen war bei diesem System kaum einmal notwendig. Man legt das Band über die Laschen und los geht es.

In die Tasche packte er sich im Vorbeigehen noch einige Äpfel, die immer in Pappkisten im Treppenhaus lagern. Eine Tafel Schokolade mit Nüssen hatte er bereits vorher aus der Küche geholt. Tiefgefroren. Schokolade muss tiefgefroren gegessen werden, dachte er, dann kann sie über die verschiedenen Phasen des Auftauens im Mund ihre sämtlichen Geschmacksmöglichkeiten entfalten. Angefangen vom lustvollen Knacken des ersten Stücks, bis zum herbsüßen Schmelz, der die Zunge mal lieblich, mal frech umkost. Anders ist das bei guten Pralinen, die sollten wohl leicht gekühlt genossen werden, niemals aber gefroren. Welch ein Verbrechen wäre dies, vor allem dann, wenn durch den Frostzustand die Hülle und der Inhalt in unpassende Aggregatzustände versetzt würden. Da Herr Nipp allerdings äußerst selten Pralinen verkostete, schon alleine wegen der enormen Kosten auf diese Köstlichkeiten verzichtete, war dieses Problem das von reichen Damen der Gesellschaft.

So, gut ausgerüstet also macht er sich auf. Nicht dass der Leser nun irritiert ist, es handelt sich bei dieser kleinen Exkursion um eine Wanderung durch die winterlich kalte Novembernacht, der Arbeitstag hatte in Richtung Tageswende gezogen. Der Mond steht leicht angeknabbert am dunstigen Himmel, der erste Frost hat eine weißliche Schicht über alle Gegenstände gehaucht. In den nächsten Tagen wird es Vollmond werden. Die Autos, die Bürgersteige, sogar die Häuser werfen das Licht der Straßenlaternen mild gedämpft zurück. Alle Schatten scheinen ihm fast milde gestimmt. Diese Stunden kann Herr Nipp genießen, schon seit er Schüler war, hat er solche Ausflüge unternommen, als Kind sogar im Sommer, war er aus dem Fenster im zweiten Stock auf die Garage geklettert, nur um die Nacht genießen zu können. Nachts um zwei. Er musste dann, um zurück zu kommen, eine kleine Trittleiter benutzen, die normalerweise neben dem Schuppen stand. Am nächsten Tag wurde diese dann immer ganz schnell entfernt, damit es keinen in den Nacken gab. Nur einmal war er erwischt worden…

Er ging zunächst die Straße hinab, bewunderte wieder einmal die Häuser, die von der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert übriggeblieben waren. Gründerzeit. Immer wieder fasste ihn ein Grauen, wenn er daran dachte, was im letzten Weltkrieg, noch viel mehr allerdings in den letzten Jahren alles an historischer Bausubstanz in seiner direkten Umgebung vernichtet worden war. Wirklich schöne Häuser, die dann durch funktionale Blockarchitektur ersetzt wurde, die meist einen billigen oder unharmonischen Abklatsch der Bauhausideale darstellt. Selten einmal, dass ein Bauherr, ein Architekt den Mut hat, etwas Eigenständiges zu schaffen. Die Moderne ist, in die Jahre gekommen und kurzfristig von der Postmoderne unterbrochen, inzwischen hundert Jahre im Stadtbild präsent und breitet sich monoton aus. Herr Nipp sieht sich nicht als absoluten Bewahrer alles Alten. Das wäre blödsinnig. Die Gesellschaft braucht die Möglichkeit der Weiterentwicklung. Aber bei gewissen Dingen stellt er sich schon die Frage nach Schönheit. Nicht jeder Betonkasten ist hässlich, aber leider viele. Eine Stadt muss leben, das ist mal klar, problematisch wird es immer dann, wenn Geschäftsleute in unreflektierter Hybris das Gesicht einer Stadt glattschleifen, nicht zulassen, dass es Falten hat. Genau die gleichen Leute, stellt sich Herr Nipp vor, werden wahrscheinlich am nächsten Tag beim Privatarzt ihre Falten im Gesicht und am Gesäß mit Silikon, Botox und anderen Mittelchen aufspritzen lassen. Die Vergangenheit muss wegradiert sein. Niemand stellt sich dem ehrlichen Altern. Ja, auch Städte verfallen manchmal einem unverständlichen Jugendwahn. Letztlich macht es die Mischung, soviel scheint klar. Wer alles Alte erhält, wird letztlich dafür sorgen, dass die Stadt verödet. Wer alles Alte zerstört, schafft eine gesichtslose Wirtschaftswüste.

Vorbei an den neuen Geschäftszeilen sucht er sich seinen Weg in die erhaltene Altstadtzeile, nur wenige Häuser, die sich erhalten haben, aus der Zeit vor den industriellen Gründern, teilweise sogar mehr als hundertfünfzig, dreihundert Jahre, das ist selten in dieser Stadt. Zu viele Brände, die von einem Strohdach zum nächsten übergriffen. Fachwerkhäuser und Fassaden, die im Holzkassettensystem verblendet sind, auch mit Schiefer. Hier findet sich relativ wenig Plastikmüll auf den Bürgersteigen, lediglich ein oder zwei bräunliche Macdonaldtüten, die standesgemäß proletisch cool durch das Seitenfenster entsorgt worden waren. Die Kletterrosenblüten an einen der Häuser sind von feinen Eiskrisallen überzogen. Herr Nipp bleibt stehen und versucht mit der Nase Rosenduft zu erhaschen. Da ist nichts mehr. Der Herbst geht nun wirklich seinem Ende entgegen, die Linden strecken ihre geleerten Zweige in den Himmel, nur noch wenige Bäume tragen Reste ihrer sommerlichen Laubpracht. Es schaudert ihn, weil der  dicke, braune, selbstgestrickte Schal, den er vor einem Jahr geschenkt bekam, sich gelöst hat und die kalte Luft nun tief unter die Jackenhülle eindringt. Man sollte in der Kälte nichts machen, das den Status Quo der Verhüllung verändert.

Inzwischen hat er die angestrebte Brücke erreicht, schaut einige Zeit in die gischtigen Fluten, welche unter ihm in scheinbar immer gleichem Spiel ihr Spiel treiben. Das Wasser reflektiert den Mond, scheint ihn hin und her zu stupsen. Dieses Phänomen kann er für einige Zeit beobachten, wie einst in der Kindheit und Jugend die Veränderung im runden Schaufenster einer Waschmaschine, dann aber wird es irgendwann langweilig. Zenbuddhismus ist einfach nicht sein Ding, aber das hatten wir schon oben in Bezug auf die Beamten, die sich wie buddhistische Mönche verhalten und in ihrem Erleuchtungsstreben wahrscheinlich genauso weit in das Innerste der Welt vordringen. Nämlich gar nicht. Die Zeit verstreicht. Am Flussweg sieht er einige Büsche in der Dunkelheit wie Figuren stehen, nicht bedrohlich, sondern eher einladend. Er geht also auch diesen Weg. In der Tasche findet er einen Zettel, Notizen vom letzten Sommer, er liest ihn unter einer der Weglampen.

Exkurse – besitzerwechsel
bis zur auflösung – elemente
auf welche weise – wie dem auch sei
eindringlingen widerstand leisten – denken und ausdrücken
können eine rolle spielen

Glücklicherweise sind die Texte weggeschickt, er hat keine Lust mehr, diese Notizen zu einem weiteren Artikel zu verarbeiten. Nicht wirklich.

 

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