Erinnerungshilfen

Und plötzlich ohne Vorwarnung durch einen akustischen Hammerschlag erzeugt, ist er in die Vergangenheit versetzt.

Immer wieder passiert ihm dies und er kann sich kaum dagegen wehren. Musik und Gerüche sind die besten Erinnerungstransporter. Nur einige Töne oder Akkorde reichen da aus und schon ist ein gesamter Erinnerungskomplex aufgerufen. Oftmals müssen diese Lieder und Musikstücke meist aus der Popgeschichte der letzten vierzig Jahre noch nicht einmal gefallen. Aber wenn zum Beispiel ein bestimmtes Stück von Mike Oldfield in irgendeinem Hörspiel auch nur abseitig im Hintergrund auftaucht, dann fühlt er sich in die Zeit zurück versetzt, als er monatelang meist auf seinem Bett liegend ein Buch nach dem anderen verschlang. Zurückgezogen von Öffentlichkeit und Realität seine schlimmsten Zeiten der körperlich-geistigen Umstellung der Pubertät überstand. Alles hatten seine Augen gefressen, jede greifbare Zeile. Die Kälte im Raum, das Essen von ungerösteten Kastanien. Die Geräusche im Haus, alles präsent, dann kann er sich seine Mutter vorstellen, die ohne anzuklopfen mit einer Wanne voller frisch gebügelter Wäsche ins Zimmer kommt. Sie redet dann nicht viel, guckt, räumt die Kleidungsstücke ein und verschwindet mit Gemurmel wieder. In solchen Situationen ging es grundsätzlich nicht um die Wäsche, sondern um Kontrolle. Eben schauen, was der Junge so treibt, nicht dass sich da doch etwa ein Mädchen ins Zimmer verlaufen haben könnte.

Dieser süßliche Äthergeruch etwa lässt ihn schlagartig zum kleinen Jungen werden, der sich monatelang dem System eines Krankenhauses unterworfen sieht, der Schmerzen erleben muss, bei dem alles nicht so wird, wie es sein sollte. Entzündungen, Blutabnahmen, immer wieder diese Flaschen mit Infusionen, Narben sind geblieben. Nicht nur in den Armen, die auch nach vierzig Jahren noch zu sehen sind, auch die Beine und die Seele haben ihren Schaden davon getragen. Der Wunsch nicht unterzugehen in einer anonymen Gesellschaft vielleicht auch. Anderseits das Gute, erlebt zu haben, wie menschlich auch unzugänglichste Menschen werden können. Die Geschichten, die er gehört hat. Das Lesen und Schreiben, das er dort gelernt hat. Mit einem sehr zweifelhaften System, aber immerhin. Nicht nur Alpträume verfolgen ihn seit jener Zeit, sondern auch richtig gute Träume, die wohlig wirken, wie Medizin. Auch hier wieder die Erinnerung an seine Mutter, die trotz all ihrer Arbeit, trotz all der anderen Kinder jeden Tag am Bett sitzt, jeden Tag Trost spendet. Ja, er hat immer noch einen riesigen Vorrat an Dankbarkeit in sich. Wenn er das nur irgendwie artikulieren könnte. Aber dafür ist es zu spät.

Der Geruch frisch geschlagener Eichen, der an die Erlebnisse, die langen Wanderungen mit dem Vater denken lässt. Das Pilze Sammeln, die vielen Erläuterungen über die Bäume des Waldes und das Fachsimpeln über Vögel und Pflanzen. Den innigen Wunsch nach dem Unberührten. Dem Eintauchen in das Idyll, fernab vom Job. Das Auftanken und Simulieren, wie der es immer genannt hatte. Diese Liebe zum Herauskommen hatte ihm der Vater tief eingepflanzt.

Lieder von Bob Marley und Black, von Billi Bragg und The Cure, welche die herrliche Zeit des Erwachsenwerdens heraufbeschwören und plastisch, fast greifbar vor das innere Auge treten lassen. Die Blicke und Berührungen, das Einverständnis dreier Menschen. Immer im Bewusstsein, dieses würde ein jähes Ende finden.

An diesem Tag ist es aber der Wechsel von Harmonien und Disharmonien im Klavierspiel des Philipp Bracht, einem begnadeten Musiker, der eigentlich für sein Posaunenspiel bekannt ist. Improvisationen, die ihm den ehemaligen Freund zu Bewusstsein rufen, mit dem es zu einem schäbigen Bruch gekommen war. Herr Nipp selber nicht unbedingt ganz schuldlos daran. Aber gesagte Wörter liegen in der Luft, sind nicht mehr zu tilgen. Wörter und Taten, die verletzt haben. Inzwischen aber sind die Wunden vernarbt, haben keine Bedeutung mehr. Auch wenn die Distanz nicht abgenommen hat.

In diesem Moment erklingt das Telefon und Herr Nipp wird daran erinnert, dass er ganz schnell nach Hause muss.

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