XVI 4

Morgens hatte sie noch am Schreibtisch gesessen, an einem Song gearbeitet, der aber nicht recht funktionieren wollte. Der Rhythmus der Worte konnte sich der Melodie nicht fügen. Zu faulen Kompromissen nach dem Vorbild der Toten Hosen war sie nicht bereit. Lieber keinen Song fertig kriegen, ihn über Wochen liegen lassen, als das. Wenn Campino, das alte Lutschbonbon sang, hatte sie immer das ungute Gefühl, dass die Texte in das Korsett, die Rüstung des Liedes gestopft würde. Die widerborstigen Worte werden dann zu dampfender Presswurst gedrängt. Hauptsache die Hörer, die Fans, die Hörigen, die auch im Alltag sich mit den bedruckten Devotionalien, den Shirts, Taschen und Bändchen kleideten, so wie man im Mittelalter Reliquien verehrt hatte, würden auf den Openairkonzerten bei irgendwelchen verregneten Festivals mitgröhlen können. Die Aussage musste ihnen stimmen, die Botschaft sollte ins Herz treffen, wen interessiert da denn schon die Ästhetik. Da konnten dann auch die kitschigsten und nichtsagendsten Phrasen vor ihren Augen zu Leuchttürmen der gelebten Alltagskultur werden. Jung und alt verbunden im postpunkigen Geschunkel und Gehopse, das immer noch Pogo genannt wurde. Als wäre es eine Kulturtechnik, die sich noch nicht verbraucht hatte. Die Toten Hosen waren zum Event geworden, eigentlich unerträglich, aber so schön, dass man sich nicht entziehen kann. Da lagen sich dann sechzigjährige Expunks mit neunzehnjährigen Hipstern in den Armen und vergaßen alle Schranken, wenn „An Tagen wie diesen“ über das matschige Konzertschlachtfeld mit pumpenden Bässen intoniert wurde. Nein, das war ihre Sache nicht. Dann lieber das Lied nicht beenden, als so etwas zu schaffen, auch wenn es Erfolg versprach und Geld einspielen würde. An dem Satzfragment „aber das ist kein Grund für Sentimentalität“ war sie letztlich wohl gescheitert. So ein schöner Satz, aber nicht singbar, nur mit Problemen überhaupt zu sprechen.

„Aber irgendwas stimmt hier doch nicht.“ „Habe auch das Gefühl, als sei diese nummer hier ganz anders.“ Die Leute, die rauchend auf der Fahrbahn stehen, haben sich eben erst kennen gelernt. Dabei fachsimpeln sie, als wären sie seit langem Bekannte, über den Stau, als seien sie über Jahre geläufig. 

Sie steigt aus und dehnt ihre Gliedmaßen. Eigentlich fühlt sie sich viel zu dünn. Man kann so einfach nichts dagegen machen. Ihre Manager wollen das so, damit kann sie zur Not noch einige Jahre leben. „Dürres Skelett“, hatte letztens noch ihre Schwester gewitzelt, die einige Pfunde mehr auf die Waage bringen konnte. Die gerne schlemmte und darauf einen samtigen Rotwein aus Italien am liebsten trank. Negro amaro. Aber der Musikzirkus verlangt von ihr die fragile Schönheit, die Menschen mussten das Gefühl haben, dass sie jeden Moment zusammen klappen konnte.

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