Wandverkleidung (keine Tapete)

Mehr aus Gewohnheit denn echtem Interesse schaute sich Herr Nipp die Wand im Flur an. Über und unter mit recht kleinformatigen Bildern bestückt, Petersburger Hängung. Ein Prinzip, welches alle hundert Jahre seine Renaissance findet, inzwischen wahrscheinlich alle 20 Jahre, längstens. Keinem der Exponate wird so eine größere Bedeutung eingeräumt, wenn man mal davon absieht, dass die Bilder in Fußtiefe doch nur recht beschwerlich zu betrachten sind. Allerdings haben Dackel ihre wahre Freude daran, endlich können sie mit dem Beinheben relativ einfach ihren Kommentar zur menschlichen Kultur abgeben. (Soweit dies von Interesse ist: Tatsächlich hat vor einigen Jahren ein gar nicht so bekannter Künstler aus Köln berichtet, eine Doppelausstellung gemacht zu haben. Ihm zufolge hingen oben Stillleben von extravaganten Speisen – Gemälde für Menschen, jeweils mit einem Näpfchen Haribos versehen, damit die Betrachter nicht verhungern. Unten auf Foxterrier-Augenhöhe Knochendarstellungen, besprüht mit einem Fleischauszug. Sollte diese Behauptung nicht der Wahrheit entsprechen, wovon der Schreiber dieser Zeilen ausgeht, so ist doch zumindest die Idee durchaus erwägenswert. Sollte also irgendwer nun auf den Gedanken zu einer solchen Ausstellung kommen, bitte ich um die Tantiemen für die grundsätzliche Ideenfindung, lieber aber um Einladung zur Teilnahme. Titel: „Luxus, ein Hundeleben“)

Neben der optischen Opulenz auch ein Spiel mit Wertigkeit und Selbstwert, gar Selbstbewertung. Als unvoreingenommener Seher (nicht Glotzer und schon gar nicht Wahrsager) sucht er sich eine Arbeit heraus und betrachtet sie eingehend. Um sie in Augenhöhe zu bekommen, stellt er sich breitbeinig auf, geht dabei stark in die Knie, als würde er in einer zu niedrigen Küche kochen oder den Abwasch machen, was noch wahrscheinlicher ist. (Sollten sie, geneigter Leser, jemals in einer Ausstellung einen Menschen in solcher Haltung sehen und denken, er habe ein schwerwiegendes Rückenleiden wie Hexenschuss, grinsen sie nicht und gucken sie erst einmal genau hin. Es könnte schließlich sein, dass er in kontemplativer Vertiefung ein Bild visuell ein Bild verschlingt.) Er schwelgt in Erinnerungen, genau genommen wirkt das Bild als Assoziationsfeld. Jedes Einzelteil, jedes Element steht allein und im Kontext aller Teile. So erweitert sich die Bedeutung zusehends.

Zunächst sieht er nur das dunkle Braun der größten Bildfläche, Rahmung, wird an seine eigene Tätigkeit in einer Grafikwerkstatt für Radierungen erinnert, die schon so lange her ist. Eine Zeit, die er meist zu verdrängen sucht. Die Farbe lässt in ihm den typischen Geruch dieser Zeit in die Nase steigen. Einerseits der leicht fiese Geruch des Terpentinersatzes, des Asphaltlacks, andererseits auch die Säuredämpfe, die auch trotz der starken Abzugshaube über den Bädern doch immer leicht in den Raum schwappten. Der Geruch der selbstgedrehten Zigaretten, die damals noch dort geraucht werden durften, des meist alten und abgestandenen Kaffes. Die vielen Abende, wenn seine Kollegen und er dort gemeinsam saßen, gekocht und gegessen hatten. Die schönen Erinnerungen an gute Gespräche und nicht immer guten Wein. Diese Farbe erschließt Herrn Nipp eine wahre olfaktorische  wie visuelle Landschaft, er fühlt sich fast an die Wahnvorstellungen des Grenouille erinnert. (Die Erwähnung dieses Namens sollte im Übrigen nicht als Hybris verstanden werden.) Eine Fotoplatte aus Glas mit einer Gebirgslandschaft und Kühen ergänzt das Bild, stellt die eigentlich Bedeutungsmitte dar. Aber kann es sein, dass eine von irgendwem gemachte Fotoarbeit zum Informationsträger eines Künstlerbildes wird? Hatte nicht der wunderbare Peter Meilchen sich jahrelang mit Kühen jeglicher Art auseinandergesetzt und vorgefundene Fotos verwendet? Und jetzt erkannte Herr Nipp auch tatsächlich, von wem diese Arbeit stammte. Die Signatur verriet die Herkunft. Unter der eigentlichen Bildfläche ein kurzer Bleistiftstummel, mit Tesakrepp aufgeklebt. Mit diesem wohl in den noch feuchten Lack geschrieben: „Landschaftsbildbeschreibung I“. Herr Nipp ist mal wieder verblüfft, mit welch einfachen Mitteln dieser Künstler in der Lage war, den Betrachter einzunehmen und in seinem Denken wie Fühlen zu manipulieren.

Genau hier kann er verstehen, dass das System der Petersburger Hängung durchaus Kraft hat. Wenn bei anderen Präsentationen von Kunst jedem Bild Raum eingeräumt wird, ein Umfeld für sich allein zu wirken, entstehen hier Beziehungen. Verknüpfungen entstehen, die bei jeder Umhängung neue Bedeutungsfelder erzeugen.  Jedes umliegende Bild nimmt Bezug zu dieser Arbeit, verändert sie, nein erweitert sie.

Über eine halbe Stunde hatte er in dieser Haltung gebannt verharrt, als er weiter wollte, musste er feststellen, dass die Beine den Dienst versagten und Herr Nipp sich nicht mehr bewegen konnte.

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