Hinterlassenschaften

Die jungen Wandergruppen sind wieder unterwegs, das lässt sich an einem Massenauflauf jugendlicher Zeichenträger unschwer ablesen. Diese ganz besondere Jugend hält nichts von Alleinsamkeit, hier geht es um einvernehmliche, weil streng hierarchisch organisierte Wohlfühlerlebnisse mit anderen. Demokratie ist halt in einigen Vereinen noch ein Fremdbegriff. Das Gefühl, ich bin in der Masse stark, auch wenn ich ein milchbubiger Zwockel bin. Und das ist gut so, denn hier wird das Selbstwertgefühl jedes Einzelnen gestärkt. Was die 68er nicht verstanden haben, wird hier zelebriert: Wahre Erziehung funktioniert nur auf der Basis klar definierter Strukturen, wobei hier wirklich nicht gesagt sein, dass die einzelnen Jungs und Mädchen undemokratisch wären. Aber in dieser Gruppe muss man sich eben unterordnen – für eine gewisse Zeit. (Ganz anbei; mache Strukturen in sogenannten Massenparteien als echte Demokratie zu bezeichnen verbietet sich auch fast von selbst. Auch hier wird auf Hörigkeit gesetzt. Um nach oben zu kommen, musst du die Ochsentour machen. Da interessieren weniger Fachkompetenzen, sondern Beziehungen und Abhängigkeiten.)

Man ergeht sich also mit seiner Gruppe in naturseliger Gemeinschaft und irgendeiner hat auf jeden Fall eine Klampfe bei sich. Die Gruppe hat den schönsten Punkt dieser Wanderroute für sich erobert. Das ist wahre Naturliebe, die an die Wandervogelbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert. Herr Nipp ist ein wenig verärgert, weil er sich seit drei Stunden darauf gefreut hatte, hier in Ruhe den Blick zu genießen. Er zieht mit seinen beiden Mitwanderern also einige zig Meter weiter. Und rastet an etwas ungünstigerer Stelle, darauf wartend, dass der restlos belegte Platz wieder frei wird. Einige Lieder werden noch geträllert, mehr oder weniger schief, aber offensichtlich mit hervorragender Stimmung. Immer wieder hört man bei einigen Textpassagen herzhaftes Gelächter. Erstaunlich für ihn ist, dass wirklich all aus voller Kehle mitsingen, normalerweise versuchen sich viele Jugendliche aus solchen anscheinend peinlichen situationen herauszuhalten. Ein wenig neidisch kann man da schon werden. Er selber lebt Zeit seines Lebens mit dem Bewusstsein, ein miserabler Sänger zu sein. Als er vor einigen Jahren gemeinsam mit einer damaligen Gefährtin mal einen Weihnachtsgottesdienst besucht hatte, löste sein völlig verunglückter Einsatz bei „Macht hoch die Tür“ fast chaotische Verhältnisse aus. Auch der Priester hatte sich ein Grinsen nicht verkneifen können, als die gesamte Gemeinde sich vor Lachen in den Bänken krümmte. Seitdem hielt er sich lieber von solchen Situationen fern. Sein fehlendes Rhythmus- und Harmoniegefühl konnte eben zu schlimmen Folgen führen. Und da können noch so viele Musiklehrer behaupten, jeder könne singen lernen.Nein, Taktgefühl ist nicht die Sache des Herrn Nipp.

Wandernachmittage mit Picnic und Musik oder sogar ganze Wochenzeltlager mit Lagerfeuer und Selbstversorgung. Das Leben unter Gleichgesinnten, Abenteuer erleben, und seien es nur Nachtwanderungen, die ganz überraschend gestört werden von Gruppenleitern, welche sich irgendwelche Tücher übergezogen haben.

Na klar, in heutiger Zeit weiß jeder Jugendliche, dass man auch fern der Zivilisation immer Antirzeckenspray zur Hand haben sollte. Was wussten denn die Wandervögel schon von Frühling-Sommer-Meningoenzephalitis und Lyme-Borreliose, die von bösen und überall heimtückisch lauernden Monstern, den Zecken, übertragen werden. Außerdem hat wohl jeder inzwischen heimlich ein Smartphone in irgendeiner Tasche stecken und zur Not könnte in ausweglosen Situationen die Wegefindeapp oder ein Notruf aktiviert werden. Wo früher noch mühsam mit Rauchzeichen Signale gegeben wurden, bedienen sich auch die allertraditionellsten Wandergruppen inzwischen modernster Technik. Wer anderes behaupten sollte, der informiere sich bitte mal im Netz. Tatsächlich werden Gruppentreffen inzwischen über facebookgruppen organisiert und nicht mehr mühsam mit der Buschtrommel.

Her Nipp mag diese Gruppen eigentlich, schaffen sie doch ein Bewusstsein für die Umwelt. Bedauerlicherweise haben genau diese 38 Jugendlichen bei ihrem Abzug etwas vergessen mitzunehmen. Als Herr Nipp endlich Gelegenheit hat, den Aussichtspunkt zu nutzen, bemerkt er naserümpfend hinter den Büschen verrichtete Notdurft. Schnell wandern die drei weiter.

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