Abwurfstangen

Jetzt ist wieder die Zeit, denkt er, in welcher im Wald die Abwurfstangen der Hirsche zu finden sind. Mal kleine Knochen, mal riesige Geweihstangen. Jedes Jahr werfen die Hirsche ihren Kopfschmuck ab. Jedes Jahr verschwenden sie Unmengen an Energie, um neue Geweihe zu bilden, prächtige Gebilde. Früher hat er sie im Frühling gesucht und oft gefunden. Damals als Jugendlicher hat er damit Bäume präpariert. Damit die Jäger sie auch finden. Das letzte Mal, als er eine Stange gefunden hat, wurde diese einer jungen entgegen kommenden Familie im Wald noch überreicht, wenige Meter von der Funstelle entfernt. Der Lohn: Glänzende Augen eines Kindes.

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Sicherheitszettel

Als er ankommt, stehen die anderen schon dort. Sie warten, nicht auf ihn, auf die richtige Zeit. Herzliche Umarmungen wechseln mit Handschlägen und tiefem in die Augen Blicken. Einige Augen sind gerötet, vom Weinen, vielleicht auch von der letzten Nacht, die nicht zu Ende ging. Dann setzt sich die Gruppe in Bewegung, in Richtung Wald, Hauptweg. Bis zum eigentlichen Treffpunkt, dort werden sie alle abgeholt. Eine freundliche Frau mit offenem Blick. Eine Frau, der anzusehen ist, dass sie dies hier schon häufig gemacht hat. Trauernde Menschen begleiten, begleiten zu einer Bestattung im Friedwald. Herr Nipp hat einen Kloß im Hals, er weiß noch nicht, was passieren wird, wie er damit umgehen kann.
Irgendwo im Wald steht ein Rund aus Bänken, dort wartet die Bestatterin mit Mitarbeitern. Die Sitzgelegenheiten sind mit Schaumstoffkissen bereitet. Herr Nipp bittet die anderen, sich hinzusetzen und sagt einige Worte, die einstimmen sollen, ruhig, aber nicht traurig, vielleicht etwas zu sentimental, ja. Dann „Into my arms“ von Nick Cave, später ein weiteres Stück dieses Sängers auf dem Weg zur Grabstelle neben einer Eiche. Die Trauernden wechseln sich ab, die Urne zu tragen, so hat jeder die Möglichkeit, sich ganz persönlich zu verabschieden. Die Schritte durch das Laub sind langsam, als wolle keiner loslassen. Mal rollen Tränen, mal wird in Erinnerung gelächelt. Letztlich weiß jeder, dass er um sich selbst weint, um die Gewissheit des eigenen Vergehens und das Wissen, dass der andere jetzt nicht mehr da ist, nur in Erinnerungen. Sie gruppieren sich um die mit Fichtenzweigen ausgelegte Stelle. Dieses Erdloch, welches einer der Söhne ausgehoben hatte. Die Urne ist inzwischen abgestellt, die Musik geht zu Ende. Und dann fängt Herr Nipp an zu sprechen, schaut den einzelnen ins Gesicht, die Blicke treffen sich für Sekunden und statt einer rührseligen Geschichte, kommen ganz entgegen dem Text, den er sich zurechtgelegt hatte, lustige oder nachdenkliche Anekdoten zum Vorschein. Und tatsächlich lächeln die Trauernden. Der Kloß im Hals ist weg. Wieder Musik, von Anne May Kantereit, von Element of Crime. Auf dem Rückweg zum Treffpunkt klingt aus dem Wald eine irisches Traditional, auf der Querflöte gespielt von einem der Gäste. Ein langsamer Rückweg. Hinterher trinken sie noch einen Wein, einen Sekt. Die sprechen über ihre Erlebnisse mit dem Verstorbenen und jeder weiß, auf welche Weise geliebt wurde, als Freund, als Kind, als Frau.
Und in der Gesäßtasche knistert Herr Nipps Sicherheitszettel, den er verfasst hatte. Für den Fall, dass er nicht weiter kommt. Er hat ihn nicht gebraucht, es wäre ganz anders gewesen. Und jetzt kann auch er weinen. Endlich.

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Zettel

Es ist nicht die Frage nach der Herkunft dieses Zettels, der da auf seinem Tisch liegt. Seit Jahren schon stellt Herr Nipp sich solcherart Problemen nicht mehr, er nimmt sie hin. Er fragt genauso wenig nach der Herkunft einer Fliege, die sich ganz gemütlich auf dem vor ihm stehenden Kuchen niedergelassen hat. Diese wird verscheucht – mit einem Wedeln der Hand. Trotzdem sitzt er seit etwa einer halben Stunde vor diesem Zettel. Verblüfft vielleicht oder verwirrt. Egal wie er ihn dreht und wendet, egal wie er versucht, hinter das Geheimnis zu kommen, er kann ihn nicht lesen. Dummerweise hat er seine Brille zu Hause vergessen.

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Geldanlage

Herr Nipp und einer der Söhne sitzen am Tisch, haben gefrühstückt und blicken jeweils auf einen Bildschirm. Keine Videoclips, keine Nachrichten in den verschiedenen sozialen Netzwerken, sondern Bankgeschäfte. Daueraufträge müssen storniert werden. Plötzlich lacht der Sohn laut auf. „Ich habe eine Idee für eine langfristige Geldanlage.“ „Aktien?“ „Nein.“ „ETFs?“ „Auch nicht.“ „Gold?“ „Das sind alles alte Strategien.“ „Oh, du scheinst etwas völlig Neues entdeckt zu haben. Ich bin gespannt.“ „Ist aber sehr langfristig.“ „Lass dir die Popel nicht aus der Nase ziehen.“ “ Lass uns eine volle Sondermülldeponie kaufen.“ „Hört sich nicht besonders lukrativ an.“ „Wir warten einfach ab. Kostet ja nix . Irgendwann können die Inhaltsstoffe bestimmt gebraucht werden. Dann machen wir echt Reibach.“

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hin und wieder warten

Hin und weg wäre sicherlich die schönste Variante, aber so ist es meist eben genau nicht. Einmal im System gefangen, kommt niemand so schnell da weg. Herr Nipp ist ausgerutscht. Eigentlich hatte er mit seinem Bruder Brennholz einschlagen wollen – für die Winterzeit in zwei oder drei Jahren. Vorsorge ist schließlich wichtig, auch wenn es um Energie geht. Und wer möchte schon winters auf die wohlige Wärme eines Kaminofens verzichten, wenn schon einer da steht. Aber in der ersten Viertelstunde, sie hatten gerade alles vorbereitet, musste er ja unbedingt ausrutschen und statt sich auf den Hintern zu setzen, mit dem rechten Arm den Sturz abfangen. super Idee. Das Geräusch wird er wohl nicht mehr vergessen. Elle gebrochen, direkt am Ellenbogengelenk. hölle hölle hölle. Die Schmerzen treiben ihn auf dem Weg zum Krankenhaus an die Bullidecke, aber die Fahrt zum Krankenhaus hält er wartend irgendwie aus. In der Notaufnahme: warten. Irgendwann dann eine Untersuchung und ab zum Röntgen und: warten. Zwei Bilder unter Schmerzen. danach: warten. „Ja, einen Schmerzsaft können Sie haben.“ erlösende Antwort auf seine wiederholte Frage und: warten…aber nur eine halbe Stunde. „Heute können wir nicht mehr operieren“, meint der Arzt. kommen Sie Montag wieder. dauerte ja nicht so lange bis zur Entlassung, nur drei Stunden. „Ihre Daten nehmen wir dann am Montag auf“, ruft eine Schwester ihm noch hinterher, als sich gerade die Tür schließt. Also zwei Tage lang: warten.

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